Kitasituation in Aachen: „Wenn man einen Mangel an Kitaplätzen beklagt, sollte man doch zumindest die vorhandenen Ressourcen und Plätze nutzen“

in Aktuelles um die Ecke, Familienleben

Die Gewährleistung ausreichender Kitaplätze für Aachener Familien beschäftigte neben Familien und Kindergärten unlängst auch den Kinder- und Jugendhilfeausschuss. Man sieht in der Bedarfsplanung für 2023 und 2024, dass nicht genug Plätze zur Verfügung stehen werden. Ziel war für über Dreijährige eine Quote von 97 % und für unter Dreijährige eine 50-%-Quote in der Betreuung. Diese Quoten wird man im kommenden Jahr nicht erreichen können. Als Gründe werden ein leichter Anstieg der Kinderzahlen, die Verzögerung von Baumaßnahmen und massiver Fachkräftemangel angeführt.
Freie Träger wie die Villa Luna ergänzen den Markt an Kitaplätzen. Für die Eltern ist das besonders dann von Vorteil, wenn die Stadt die Plätze in die öffentliche Förderung nimmt und ein Platz so viel kostet wie überall im Stadtgebiet. Dr. Jürgen Reul, Ex-Manager und Villa-Luna-Gründer betreibt 14 bilinguale Kitas in Deutschland, davon zwei in Aachen. Während die Plätze in der neuen Kita in Aachen-Brand gefördert sind, kämpft man für die andere Kita in der Weißhausstraße seit der Eröffnung 2004 um die Anerkennung.
Wir haben mit Dr. Jürgen Reul über die aktuelle Situation gesprochen. Dabei kommt auch zur Sprache, was der freie Träger für die Mitarbeiterzufriedenheit tut und wie es dadurch kaum noch zu Personalschwund kommt.

Villa Luna: Die neue Kita in Aachen-Brand, 2021

Herr Dr. Reul, Sie beklagen seit Jahren, dass Ihre Kita in der Weißhausstraße nicht öffentlich gefördert wird und deshalb nicht alle Plätze belegt werden. Dabei würden die Plätze doch dringend benötigt.

Genau. Wir haben 60 Plätze zur Verfügung, von denen etwa die Hälfte ausgefüllt ist, die Eltern zahlen alle privat für die Betreuung und Bildung ihrer Kinder. Durch eine Förderung könnte man weitere Plätze für alle Eltern zugänglich machen. Wir sind seit Jahren verwundert darüber, dass man uns nicht in die öffentliche Förderung nimmt, vor allem wenn man bedenkt, dass wir in allen anderen Kommunen deutschlandweit, in denen wir Kitas eröffnen, mit Kusshand begrüßt und sofort auch öffentlich gefördert werden.
Wir haben hier in Aachen von Anfang an das Gefühl, als Elitekindergarten gebrandmarkt zu sein. Wir haben lediglich das Bestreben, gut zu sein, was spricht dagegen? Wir wollen auch keine Gewinne scheffeln, das ist auch gar nicht möglich, da wir eine gemeinnützige GmbH sind.
Als wir 2004 unsere ersten zwei Kitas in Aachen und Düsseldorf eröffnet haben, haben wir Schwung in ein verknöchertes System gebracht, auch Armin Laschet, damals Familienminister in NRW, sagte, wir seien diejenigen, die das System qualitativ nach vorne bringen. Dennoch scheint man uns in Aachen unsere Arbeit übel zu nehmen. Ich möchte hier aber gar nicht polemisch wirken oder die Stadt beschimpfen. Ich frage mich jedoch, warum man, wenn allseits Mangel an Plätzen verkündet wird, nicht die Plätze nutzt, die man vor Ort hat?

Worauf führen Sie es zurück, dass man gerade hier in Aachen die Plätze nicht in die öffentliche Förderung nehmen will?

Man wollte immer die Dienstleistung, die wir anbieten, sagt dann aber, dass es zu teuer ist und man das nicht finanzieren könne. Zudem seien andere Sozialräume in Aachen schlimmer dran und deshalb sei hier keine öffentliche Förderung sinnvoll, da dieser Sozialraum ausreichend gedeckt ist. Dies ist für mich aber ein Scheinargument. Aus der Praxis und aus den unlängst veröffentlichten Zahlen in der Kitabedarfsplanung geht hervor, dass die Eltern ihre Kinder nicht unbedingt in ihrem Sozialraum unterbringen, sondern auch mal nach links und rechts schauen, 1.600 Kinder in Aachen gehen in einem anderen Sozialraum in die Kita.
Jetzt sieht auch die Stadt das ein und möchte die Sozialräume mehr als Gesamtheit betrachten, deshalb sind wir gespannt, wie es weitergehen wird. Wenn man einen Mangel an Kitaplätzen beklagt, sollte man doch zumindest die vorhandenen Ressourcen und Plätze ausreichend nutzen. Wir haben hier die Räume und Mitarbeiter zur Verfügung.

Sind Sie dazu weiterhin im Gespräch mit der Stadt?

Ja, wir wenden uns jedes Jahr an die Stadt und stellen unsere Anfrage, bisher immer mit der gleichen Antwort. Als ich erfahren habe, dass man die Sozialräume jetzt mehr als Gesamtheit betrachten möchte, habe ich mich erneut an Herrn Brötz, Beigeordneter für Kinder, Jugend, Schule und Kultur der Stadt Aachen, gewandt. Eine Antwort steht aus. Es ist schade, dass die Politik dieses selbst geschaffene Problem nicht frühzeitig gelöst oder angegangen hat.

„Die Ausbildungsoffensive fehlt. Um 2000 hatte man Wäschekörbe voll mit Bewerbungen.“

Sie sagen, das Problem sei selbst geschaffen?

Damit meine ich vor allem den Fachkräftemangel, der jetzt dazu führt, dass das Personal unter großem Druck steht und teilweise schon überlastet ist. Dabei handelt es sich um ein politisch auf Bundesebene erzeugtes Problem.
Anfang der 2000er hat man in Deutschland begonnen, den Kitaplatzausbau massiv voranzutreiben, vor allem auch für unter Dreijährige. Damals gab es noch einen Überschuss an Erziehern, wir hatten auf unsere Stellen für neue Kitas in Düsseldorf und Aachen Wäschekörbe voll mit Bewerbungen. Man hat für diesen Ausbau aber keine ausreichende Ausbildungsoffensive von öffentlicher Hand gestartet. Die Infrastruktur in der Ausbildung wurde nicht an die neuen Anforderungen angepasst, dementsprechend wurden nicht genügend Erzieher und Erzieherinnen ausgebildet.
Gleichzeitig sind in derselben Zeit die Qualitätsansprüche und Standards in der Kindertagesbetreuung immer mehr gestiegen. So wurde zum Beispiel der Betreuungsschlüssel angehoben, was an sich natürlich eine gute Sache ist, aber auch von ausreichend Personal gedeckt werden muss. Wenn die erhöhten Ansprüche dann auf einen Fachkräftemangel treffen, hat man ein doppeltes Problem.
Dazu kommt, dass der Ausbau von der Presse und in der Öffentlichkeit stets befeuert wurde. Das hat bei den Eltern Begehrlichkeiten geweckt, die vorher nicht unbedingt da waren. Früher war es noch die Ausnahme, dass Kinder unter drei Jahren in der Kindertagesstätte betreut werden, heute wird es immer mehr zur Regel. Wir befürworten diese Veränderung und sind uns sicher, dass Kinder ab einem oder zwei Jahren sich besser entwickeln, wenn sie viel Kontakt zu Gleichaltrigen haben. Trotzdem müssten diese Begehrlichkeiten durch ausreichend Personal aufgefangen werden, was aber nicht gewährleistet ist.

„Für Kinder, Eltern und Erzieher ist es das Wichtigste, dass die Betreuung verlässlich zur Verfügung steht.“

Was wären dementsprechend Lösungsansätze?

Um die Situation langfristig zu beruhigen, muss man an der Ausbildung der Fachkräfte ansetzen. Die Infrastruktur für die Ausbildung muss ausgebaut werden und es benötigt dahingehende politische Maßnahmen. Dieser Lösungsansatz setzt eher mittel- und langfristig an, zusätzlich brauchen wir in der aktuellen Situation Maßnahmen, um es nicht zu einem Kollaps des Systems kommen zu lassen.
Dafür müssen wir kurz- und mittelfristig die Standards einschränken, es geht nicht anders. Es fehlen bundesweit über 100.000 Fachkräfte, die kriegen wir jetzt gerade nirgendwo her. Das heißt, das Fachkräfteprinzip muss eingeschränkt werden, wenn wir Betreuung sichern wollen. Wir brauchen fachfremdes Personal, das in den Kindertagesstätten hilft und dem pädagogischen Personal zur Seite steht. Dabei wollen wir natürlich nicht Tür und Tor für jeden in der Kindertagesstätte öffnen, es gibt aber viele Menschen, die begabt im Umgang mit Kindern sind. Das System kann sich nicht mehr von innen heilen, wir benötigen diese Hilfe von außen.
Für Kinder, Eltern und Erzieher ist es das Wichtigste, dass die Betreuung verlässlich zur Verfügung steht. Die Landesjugendämter müssen die Standards lockern, sie würden damit allen etwas Gutes tun. Die hohe Krankheitsquote in diesem Bereich kommt nicht von ungefähr, die Erzieherinnen und Erzieher sind an ihren Grenzen, wir müssen sie entlasten.

Sie sprechen hier von politischen Änderungen, die vorgenommen werden müssten, was tun Sie konkret, um Ihre Mitarbeiter zu entlasten?

Uns ist klar, der Stress in der Gesellschaft ist allgemein hoch. Die Eltern sind enttäuscht, wenn es zu Schließungen kommt, das gilt es also zu vermeiden. Die Stimmung bei den Fachkräften hat sehr unter der Situation gelitten. Die Frustration ist hoch, wenn man mit zu wenig Personal arbeitet, dadurch wiederum Personal krank wird und man überdies seine üblichen Angebote nicht durchführen kann. Positive Erlebnisse bleiben aus und die Stimmung wird immer schlechter. Wir haben uns im letzten Jahr gefragt, wie wir das selber verhindern können, ohne auf die Politik zu zählen.
Mit Abgesandten jeder Villa-Luna-Einrichtung aus Deutschland haben wir uns in Düsseldorf getroffen, ein Maßnahmenpaket ausgearbeitet und kurz darauf auf den Weg gebracht. Alles dient der Wertschätzung unserer hochgeschätzten Kollegen und Kolleginnen und ihrer Arbeit.
Wir haben zweimal Gehaltserhöhungen durchgeführt, auf eine Gehaltserhöhung im letzten Jahr folgt eine weitere im Frühling. Zudem haben wir ein Provisionssystem für besondere Angebote auf den Weg gebracht. Ein kleiner Teil der Mitarbeiter führt gerne zusätzliche Angebote durch, die über die geforderten Arbeitsansprüche hinausgehen. Um dies wertzuschätzen, gibt es dafür in Zukunft Provisionen.
Darüber hinaus leisten wir nun Zusätzliches im Bereich Gesundheitsmanagement und möchten unseren Mitarbeitern beispielsweise Massagen oder Fitnessstudiomitgliedschaften finanzieren. Des Weiteren planen wir mit mehr Auszubildenden, wir möchten hier hoch qualifiziertes Personal ausbilden, welches im besten Fall natürlich übernommen wird. Wir bieten unseren Mitarbeitern nun an, die Einrichtung für einen begrenzten Zeitraum zu wechseln und mal statt in Aachen in Hamburg, Düsseldorf oder Berlin zu arbeiten. Dafür stellen wir bei Bedarf auch Wohnungen zur Verfügung. Dieses Angebot hat großen Anklang gefunden.
Wir ermöglichen experimentelle Arbeitsformen wie die Vier-Tage-Woche. Unsere Mitarbeiter können im Notfall immer ihre Kinder mitbringen, ein Angebot, was einige Mütter entlastet. Neben einem zusätzlichen Fortbildungsbudget und Supervisionen haben wir den VillaLuna-Campus eingeführt. Eine Online-Plattform, auf der unsere Mitarbeiter ihr Fachwissen miteinander teilen können. Dazu kommen noch Maßnahmen im Bereich der Digitalisierung, die unsere Mitarbeiter entlasten sollen.
Insgesamt also ein breites Paket an Maßnahmen, die bei unserem Personal sehr gut angekommen, sie fühlen sich gesehen, ernst genommen und wertgeschätzt. Seit das Programm läuft, haben wir kaum Kündigungen bekommen und die Stimmung ist deutlich besser. Natürlich hat uns das Ganze einiges gekostet, aber ich bin mir sicher, dass es das wert ist.
Wir werden uns nun jedes Jahr mit Abgesandten aus jeder Einrichtung in Düsseldorf treffen und gemeinsam überlegen, was wir weiterhin tun können. Ich blicke mit Zuversicht in die Zukunft und bin sicher, dass sich noch einiges wandeln wird im Bereich der Kinderbetreuung.

Was, denken Sie, wird sich in der Kindertagesbetreuung der Zukunft ändern, wie sieht Kita 2030 aus?

Ich denke, die Betreuungsformen werden sich weiterentwickeln, dabei wird hoffentlich mehr auf die Belange der Erzieher eingegangen. Zudem denke ich, dass teiloffene und offene Ansätze immer mehr zur Norm werden, wie wir es auch jetzt schon beobachten. Die feste Gruppenbindung der Kinder wird weitestgehend aufgelöst werden.
Möglicherweise werden die Öffnungszeiten angepasst werden. Ähnlich wie es in der Grundschule ist, wo der Unterricht von 8-13 Uhr stattfindet und dann noch eine pädagogische Betreuung erfolgt, könnte ich mir vorstellen, dass man das Fachkräfteprinzip zeitlich begrenzt.
Nicht zuletzt denke ich, dass die Digitalisierung immer mehr Einzug auch in die Kita finden wird. In anderen Ländern konnte ich dies bereits beobachten. Dabei soll es nicht um reine Konsumformen des Digitalen gehen, sondern um die produktiven Möglichkeiten, die wir damit entwickeln können. Wir möchten unsere Kinder nicht zu digitalen Analphabeten heranziehen. Vielleicht kann die Digitalisierung mittelfristig bei unserem Fachkräftemangel hilfreich sein, das wird sich in der Zukunft aber zeigen müssen. Es ist durchaus möglich, dass weniger Betreuungszeit benötigt wird, da die Eltern selbst weniger arbeiten und wieder mehr Zeit für ihre Kinder haben. Wir bleiben gespannt, wie sich das System verändern wird, und möchten dabei natürlich auch den Weg bereiten.

Möchten Sie noch etwas loswerden?

Die Arbeit im Kindergarten ist nach wie vor der schönste Job der Welt. Um diesen schönen Beruf zu bewahren und den Kindern das bestmögliche Aufwachsen zu ermöglichen, benötigt es Unterstützung der öffentlichen Hand und Arbeitgeberfürsorge. Die Kinder sollen ein positives Lebensgefühl entwickeln, der Kindergarten ist nach der Familie dafür die erste Instanz. Das ist mir eine Herzensangelegenheit!

Vielen Dank, Herr Dr. Reul!

Infos:
villaluna.de

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