Hyperemesis gravidarum: Schwangerschaftsübelkeit als Krankheit

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HG ist eine ernst zu nehmende, aber leider nach wie vor selten ernst genommene Erkrankung, an der je nach Statistik und Diagnoseverfahren 0,5–3% aller Schwangeren leiden. Betroffene Frauen haben fast konstant mit starker Übelkeit und Brechreiz zu kämpfen, übergeben sich bis zu 50-mal am Tag und können zum Teil nicht einmal Medikamente oder Wasser bei sich behalten. Anders als bei der normalen Schwangerschaftsübelkeit dauert die HG in vielen Fällen über die 12. Schwangerschaftswoche hinaus an, teilweise bis zur Geburt des Kindes. Nicht selten magern die Frauen während der Schwangerschaft bis auf die Knochen ab und müssen künstlich mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt werden.

„Stell Dich einfach nicht so an.“

Die üblichen Tipps und Kniffe, die Schwangeren die Wochen der Hormonumstellung sonst erleichtern, helfen hierbei kaum oder gar nicht: „Die meisten Menschen in meinem Umfeld wissen anscheinend genau, was ich so falsch mache, und überschütten mich mit einer nie enden wollenden Flut guter Ratschläge: öfter kleine Mahlzeiten, viel trinken, sich einfach nicht so anstellen und gehen lassen, mal zusammenreißen, dieses Medikament, jene Globuli, hier ein Säftchen, dort etwas Akupunktur, so lauten die Ratschläge. Aber sie helfen alle nicht. An schlechten Tagen spucke ich alles, wirklich alles, wieder aus, und dann hilft es mir wenig, wenn eine übergewichtige Nachtschwester mir sagt, ich solle halt mal was essen, sie habe schließlich drei Schwangerschaften hinter sich gebracht und ihr wäre dabei auch schlecht gewesen. Aber sie habe sich einfach nicht so angestellt“, berichtet eine Schwangere namens Nadine, deren Erfahrungsbericht in einer der wenigen Veröffentlichungen zu HG im deutschsprachigen Raum zu finden ist.

Die Autorinnen Anna Hubrich und Christine Braun, letztere selbst HG-Mutter und Gründerin einer Internetplattform für Betroffene, wollen mit ihrem Buch Aufklärungsarbeit leis-ten – für Schwangere, deren Angehörige und Ärzte. Denn Forschung gibt es nur wenig, und auch Fachpersonal ist oft unzureichend über Hintergründe und Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt: „Das Lustige oder eher Traurige daran ist, dass ich selbst Ärztin bin und meine Kollegen mich trotzdem wie eine hysterische Kuh behandeln. Und das, obwohl seit Jahren(!) hinlänglich bekannt ist, dass Hyperemesis nicht die psychisch angeschlagenen Frauen, sondern die mit zu viel β-HCG (das ist das Schwangerschaftshormon) böse erwischt“, schreibt Nadine weiter. Frauen, die Mehrlinge und/oder Mädchen erwarten, haben ein erhöhtes Risiko, HG zu entwickeln – in beiden Fällen ist der HCG-Wert im Durchschnitt höher als bei Einlingsschwangerschaften mit männlichem Fötus. Neben einem veränderten Hormonspiegel kommen auch genetische Veranlagung, eine Schilddrüsenerkrankung und eine Infektion mit Helicobacter pylori als Auslöser in Frage. Helicobacter pylori, der auch für das Entstehen von Magengeschwüren verantwortlich gemacht wird, ist ein häufig auftretender Keim. Ca. 50 % der Menschen tragen ihn in sich, die meisten, ohne Symptome zu zeigen. Prof. Peter Figo, Leiter der Hormonambulanz der Universitätsfrauenklinik Wien, fand aber heraus, dass unter Frauen mit HG die Infektionsrate signifikant erhöht war. Über 90 % der Betroffenen hatten den Keim, während in der Kontrollgruppe ohne HG nur 46,5 % infiziert waren.

Depression als Resultat

Trotzdem hält sich die Ansicht hartnäckig, HG sei psychisch bedingt und die Schwangere lehne ihr ungeborenes Kind ab – eine Haltung, die den Betroffenen noch weiter zusetzt. Denn tatsächlich sind Depressionen und Belastungsstörungen in den meisten Fällen Resultat der HG und nicht deren Ursache. Schwangere mit HG gelangen schnell an die Grenzen der körperlichen und psychischen Belastbarkeit  – und manchmal sogar darüber hinaus: „Einmal hatte ich fünf Tage und Nächte hintereinander nicht geschlafen, weil ich mich permanent übergab. […] [I]ch war einfach nur am Ende. Vollkommen am Ende – mit meinem Körper und meinem Geist. Als ich nach diesen 120 schlaflosen Stunden die Ärzte verzweifelt anflehte, sie sollten mir bitte helfen und ich könne so nicht weitermachen, machte man plötzlich eine Riesensache daraus. Ich bekam ein Medikament mit dem Wirkstoff Lorazepam zur Beruhigung. Und während man mich darüber unterrichtete, dass dies ein psychologisches Gutachten zur Folge hätte, bei dem festgestellt werden müsste, ob ich suizidgefährdet war, schlief ich endlich ein. Ich schlief ganze 24 Stunden durch. War ich suizidgefährdet? Ja und nein. Einerseits liebte ich das Kind in mir und träumte davon, wie ich es im Arm halte […]. Ich wollte dieses Kind mehr als alles andere auf der Welt! Aber andererseits sehnte ich mich nach Erlösung. […] Ich hatte den Gedanken. Aber ich musste über mich selbst lachen, denn wie sollte ich mir was antun? Ich war ja schon zu schwach, um auf die Toilette zu gehen!“ So der Bericht von Charlotte, der ebenfalls in Hubrichs und Brauns Buch zu finden ist.

Klinikaufenthalt manchmal vonnöten

Gefahr besteht nicht nur für das Leben der Mutter. Einige Schwangere mit HG sehen den einzigen Ausweg in einem Schwangerschaftsabbruch – vor allem, wenn Umfeld und Fachpersonal nicht genügend Hilfestellung bieten können. Es gibt durchaus Möglichkeiten, den Verlauf einer HG-Schwangerschaft positiv zu beeinflussen, dazu müssen aber alle Beteiligten (Betroffene, Angehörige, Hebammen, Ärzte, Krankenkassen) zusammenarbeiten. Entlastung von Alltagspflichten, Verständnis und emotionaler Rückhalt sind ebenso wichtig wie die Versorgung mit geeigneten Medikamenten. Wenn das Erbrechen zum Dauerzustand wird, ist meistens ein Klinikaufenthalt sinnvoll. Da die Standardmedikation (in Deutschland Vomex) bei HG oft nicht anschlägt, sollten Ärzte bereit sein, in Absprache mit den Betroffenen nach alternativen Wirkstoffen zu suchen, Kompromisse zwischen Kindeswohl und Gesundheit der Mutter zu finden, mit Kostenträgern zu verhandeln und ggf. auch unorthodoxe Wege einzuschlagen.

So helfen manchen Schwangeren Antidepressiva wie Mirtazapin – nicht nur, weil sie die psychische Belastung ertragen helfen, sondern vor allem, weil sie als willkommene Nebenwirkung beruhigend auf das Brechzentrum im Gehirn wirken. Für viele Betroffene bleibt jedoch die einzige Hoffnungsquelle der Gedanke daran, dass die Zeit des Dahinvegetierens, der Isolation und Verzweiflung spätestens bei der Geburt ein Ende hat. Ein Trost: Die Kinder von HG-Schwangeren sind überdurchschnittlich gesund.

Weiterführende Hinweise:
Anna Hubrich und Christiane Braun: „Hyperemesis gravidarum. Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschaft“, Fidibus 2013. Das Handbuch umfasst praktische Tipps, Experteninterviews und Erfahrungsberichte von Betroffenen und deren Partnern.

Die Website von Christiane Braun bietet darüber hinaus ein Forum für Betroffene, nützliche Links, Informationsblätter für Ärzte und Angehörige sowie eine kommentierte Liste mit alternativen Mitteln gegen Übelkeit: www.hyperemesis.de

Anke Rohde und Almut Dort: „Gynäkologische Psychosomatik und Gynäkopsychiatrie: Das Lehrbuch“, Schattauer 2007. Die Autorinnen widmen der HG ein kurzes, aber aufschlussreiches Kapitel und gehen ausführlich auf die Behandlung mit Psychopharmaka ein.

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6 responses to “Hyperemesis gravidarum: Schwangerschaftsübelkeit als Krankheit

  1. Vielen Dank für Ihren tollen Artikel.

    Ich stöbere schon seit Längerem auf Ihrem interessanten Weblog.
    Und heute musste mich mal ein schnellen Kommentar da lassen .

    Machen Sie genauso weiter, freue mich bereits jetzt schon auf den nächsten Beitrag

  2. Als selbst Betroffene bin ich sehr froh über solche Artikel. Bin in meiner 2. Hg Schwangerschaft und kenne nun endlich durch die Selbsthilfegruppen hilfreiche Tipps. Embryotox ist noch gut zu erwähnen. Viele Ärzte haben leider keine Ahnung von hg.

  3. Bei mir war es genauso, krampfartiges Erbrechen bei gleichzeitiger Entleerung der Blase. Ich bin so schwach geworden und nur noch auf allen Vieren gekrochen. Kein Verständnis vom Frauenarzt. Ein Abbruch erschien mir wie eine Erlösung, was ich dann auch durchgeführt habe. Ich bereue es nicht, ich bin erleichtert.

    1. Hallo Luna, das ist eine wirklich sehr drastische Erfahrung. Ich hoffe Du kommst gut damit klar.
      Grüße Birgit Franchy / KingKalli

    2. HalloLuna.
      Ich hatte bei meinem ersten Kind auch 7 Monate lang erbrechen aber nicht so schlimm aber vor 2 Wochen habe ich meine 2 Schwangerschaft abgebrochen .Nichts Essen und nichts trinken und wenn man ein Schluck von Wasser trinkt kommt das vierfache wieder raus.Ich konnte nicht mehr und wer kümmerte sich um mein Sohn waren meine Gedanken noch dabei.Ich eollte es so sehr aber der Körper sagte Nein.Jetzt geht es mir wieder gut aber muss jetzt mit Schuldgefühlen und fühle mich als Versagerin und sage mir tut mir Leid kleiner Schatz aber Mama packt es nicht mehr .

    3. Hallo Sandy, hoffentlich geht es dir jetzt besser! Hast du Unterstützung?
      Liebe Grüße, Birgit / KingKalli