„Mama, was ist ein Judenbalg?“ – Nachruf auf Helmut Clahsen

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Helmut Clahsen wurde 1931 als Kind eines katholischen Vaters und einer jüdischen Mutter in Aachen geboren. Seiner jüdischen Großmutter versprach er, nichts zu vergessen und die Geschichte seiner Familie und die der Juden in Aachen für die Nachwelt zu dokumentieren. Er konnte diesen Wunsch auf eindrucksvolle Weise erfüllen und engagierte sich Jahrzehntelang in der Aufklärung von Schülern und Interessierten. Im Oktober ist Helmut Clahsen verstorben. Ein geplantes Treffen konnten wir leider nicht mehr durchführen.

Der kleine Helmut ist vier Jahre alt, als seine Mutter ein Baby erwartet. Freudig erzählt er der Nachbarin davon. „Ein Judenbalg mehr oder weniger wird dem Führer bestimmt nichts ausmachen“, erhält er als Antwort, die er seiner verzweifelten Mutter überbringt.
Erst langsam schleicht sich die Erkenntnis in sein Leben, dass da vermeintlich etwas nicht stimmt mit der Familie.
Seine Erinnerungen setzen 1935 ein, als die Familie noch ein verhältnismäßig gutes Leben führt. Beide Eltern sind berufstätig, die Mutter ist Konzertpianistin am Theater Aachen, der Vater arbeitet im Amt. Im Laufe der kommenden Monate spitzt sich die Situation der Familie mehr und mehr zu. Die Mutter verliert nicht nur ihren Job, sondern wird kurz nach der Geburt der kleinen Schwester ins Krankenhaus in Forst eingewiesen, ohne krank zu sein. Nie mehr wird sie es verlassen. Nach langen, qualvollen Jahren stirbt sie und alle mit ihr Eingewiesenen einen grausamen Tod nach medizinischen Versuchen.
Der kleine Helmut und sein Bruder bleiben beim Vater, der zerrissen ist zwischen seiner jüdischen und seiner arischen Familie. Zu stark sind die Widerstände seiner Schwestern. Die hasserfüllten Tanten Helmuts nehmen die kleine Schwester bei sich auf und tun alles, um Helmut und seinem Bruder das Leben schwer zu machen, selbst den Tod der Brüder wünschen sie herbei.
Das Leben, das Helmut Clahsen für die kommenden Jahre beschreibt, ist unerträglich. Oft möchte man einfach nicht mehr weiterlesen, weil es zu grausam ist, was Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen da mitten in Aachen, an Orten, die wir alle kennen, widerfährt. Ein Schulbesuch, den Helmut so herbeigesehnt hatte, bleibt ihm verwehrt, schon am ersten Tag wird er so heftig verprügelt, dass allen klar ist, dass daran im Nazideutschland für Juden nicht zu denken ist.
Der Vater verliert seinen Job und wird ebenfalls gedemütigt. Einen Zugang zu seinem Sohn wird er jedoch nie finden, der Vater benutzt ihn stattdessen als Sündenbock, an dem er oft genug seine Aggressionen ablässt.
Ein Lichtblick für Helmut ist immer seine über alles geliebte Großmutter, die ihn ermuntert, zu lernen und nichts zu vergessen, und ihm das Versprechen abnimmt, alles aufzuschreiben, was den Menschen in dieser Zeit geschieht. Sie sitzen zusammen im winzigen Zimmer der Oma und blicken in den von Bomben erhellten Nachthimmel – natürlich ist Juden der Zugang zum Bunker verboten –, während die Oma hofft, hier zu sterben statt im KZ.
Der Wunsch soll ihr nicht erfüllt werden. Wie alle jüdischen Familienmitglieder wird auch die Großmutter nicht aus dem KZ zurückkehren, nachdem sie von den Schwestern des Vaters verraten und von den Nazis abgeholt wurde.

Während man das Buch liest, wird einem immer wieder bewusst, dass gut und böse nicht immer so leicht einzuordnen sind und oft nur Glück oder ein scharfer Instinkt über Leben und Tod entscheiden. In Helmut Clahsens Fall wird die eigene Familie zum Feind, während der Nachbar, ein vermeintlicher Nazi, sein Leben lässt, weil er die jüdische Familie unterstützt hat.

Das Buch wäre unerträglich zu lesen, gäbe es nicht die Menschen, die Helmut und seinem Bruder beistehen und sie uneigennützig und unter großer Gefahr für ihr eigenes Leben immer wieder verstecken. In besonderer Weise steht „Mary“, die beste Freundin der Mutter, Helmut bei und organisiert Plätze im Kinderheim, im Kloster oder bei Nonnen in der Eifel, die das Kind mehr oder weniger warmherzig aufnehmen.
Zum Ende des Krieges, als Aachen in Trümmern liegt und auch die Mönche, die den Kindern Unterschlupf geboten haben, alles verloren haben, sind es schließlich Familien aus Belgien, die die verfolgten Kinder aufnehmen und ihnen das Leben retten.
Zu gerne möchte man mit dem ersten Band und der Befreiung der Kinder die Geschichte beenden. Doch so einfach ist es nicht. Helmut Clahsen entlässt einen nicht in ein Happy End. Im zweiten Band, „Und danach, David? Ist Goliath wirklich besiegt?“, schildert er sein Leben zwischen 14 und 18 Jahren in Aachen, als jemand, der den Krieg zwar überlebt hat, aber der vor dem Nichts steht und schnell erkennt, dass die Nazis von damals ja immer noch da sind. Ohne Schulbildung – er kann nicht einmal lesen und schreiben, da er nie die Schule besuchen konnte – sieht er sich nicht in der Lage, das Versprechen an die Oma einzulösen und seine Geschichte aufzuschreiben.
Helmut Clahsen lernt im wahrsten Sinne des Wortes „sich durchzuschlagen“, manchmal entgehen seine Widersacher nur knapp dem Tod und er muss lernen, seinen Hass abzulegen.
Die Familie seines Vaters bleibt ihm feindlich gesinnt. Seine kleine Schwester, die bei den Tanten aufwuchs, wurde ihm entfremdet.
Wieder ist es Mutters Freundin Mary, die ihm hilft. Sie findet eine Ausbildungsstelle mit herzlichen Ausbildern, die sogar einen Lehrer bezahlen, der ihm die fehlende Schulbildung beibringt.
Nach einem schweren Zusammenbruch begibt er sich als Jugendlicher daran, im Krankenhaus seine Geschichte aufzuschreiben. Ein Arzt und eine Krankenschwester erkennen den Wert der Arbeit und versorgen ihn mit Heften aus alten Tapeten, warnen ihn jedoch eindringlich, dass die Menschen noch nicht reif für so eine Niederschrift sind. Die erste Fassung, die er kurz nach dem Krieg niederschrieb, diente fast fünf Jahrzehnte später als Buchvorlage.

Helmut Clahsen verschrieb sein Leben nach der Frühpensionierung 1988 der Information nachfolgender Generationen. Unermüdlich hielt er Vorträge vor Schulklassen in der Hoffnung, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, denn Zeit heilt keine Wunden, wie er sagte. Das Aachener Stadttheater, wo seine Mutter Klavier spielte und seine Tante sang, konnte er nie wieder zum Besuch einer Oper betreten.

Mit Helmut Clahsen ist ein wichtiger Zeitzeuge gestorben. Im August habe ich ihn noch als wachen Referenten bei einem Vortrag erlebt. Vor mir liegen viele Fragen und die Telefonnummer, die ich vom Verlag zur Terminvereinbarung erhalten habe.
Leider werde ich ihm meine Fragen nicht mehr stellen können.

Bücher von Helmut Clahsen:

Mama, was ist ein Judenbalg
Eine jüdische Kindheit in Aachen 1935-1945
2003, Helios Verlag, 6,99 Euro

Und danach, David? Ist Goliath wirklich besiegt?
Überleben im zerstörten Aachen 1945-1949
2010, Helios Verlag, 17 Euro

Der Sekretär
Schicksal einer jüdischen Großfamilie aus Aachen in der NS-Zeit
2006, Helios Verlag, 13,90 Euro

Trümmerfrauen
Angst, Not, Leid und Tod in Aachen während und nach dem 2. Weltkrieg
2014 Helios Verlag, 14,00 Euro

Foto: Michael Klarmann / Januar 2006 bei einer Veranstaltung zum Holocaust-Gedenktag in Heerlen

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