Kanuclub und Pfadfinder – Bakarys (18) neues Leben in Aachen

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Ralfs und Juttas vier Kinder sind aus dem Haus, als sie einen Aufruf lesen und 2015 beschließen, einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling bei sich aufzunehmen. Inzwischen lebt Bakary seit über einem Jahr bei ihnen in Aachen-Brand.

Bakary (18) hat ein ausgefülltes Programm. Nachdem er seine Hausaufgaben erledigt hat, besucht er das Training im Kanuclub oder hilft bei der Betreuung einer Kindergruppe der Pfadfinder oder der Messdiener in Aachen-Brand. Er ist besonders für seine Zuverlässigkeit bekannt. Zu Hause kümmert er sich um die fünf Hühner und vier Laufenten der Familie, besonders sein weißes Huhn Tina hat er ins Herz geschlossen, seit er es beim Einkauf auf dem Bauernmarkt in Kommern aussuchen durfte. Dass die Familie keinen Fernseher hat, stört Bakary nicht, er hat gerne seine Ruhe und liest etwas, ist aber genauso gerne in einer geselligen Runde unter Menschen.

Hin zum Wesentlichen

Jutta und Ralf haben mit ihren vier Kindern und den eigenen Eltern im Ort eine große Familie, wie Ralf erzählt, als wir im Hof der Familie Kaffee trinken. Die vier Kinder waren seit zwei Jahren aus dem Haus, als Ralf und Jutta einen Zeitungsartikel lasen, in dem das Zentrum für Kinder-, Jugend- und Familienhilfe einen Aufruf gestartet hatte, um „Sonderpflegestellen“ für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu finden. Ralf und Jutta lasen den Artikel unabhängig voneinander und kamen beide zu dem Schluss, dass dies eine ansprechende Aufgabe wäre.
Ralf: „Wenn die Kinder aus dem Haus sind, bauen viele Paare ihr Haus um, gestalten ein neues Bad oder kaufen eine neue Küche. Wir wollten das nicht. Wir wollten weg von der bequemen Zweisamkeit, welche wir genossen haben, und hin zum Wesentlichen.“ Sie entscheiden sich, den Weg zu Maria im Tann zu gehen und einen Jugendlichen aufzunehmen.
Zuerst war nicht ganz klar, ob dies möglich wäre, denn die beiden hatten keine ausreichende pädagogische Ausbildung vorzuweisen, wie es bei Erziehungsstellen eigentlich nötig ist. Da sie aber beide aktiv in der Jugendarbeit tätig waren und vier Kinder „ins Leben entlassen haben“, konnte dies als Vorerfahrung anerkannt werden und die Reise zur Pflegefamilie begann.
Ein halbes Jahr dauerte die Phase, in der die beiden vorbereitet wurden, dann wurde ein Jugendlicher für sie ausgesucht. Die ersten beiden Treffen fanden auf neutralem Boden im Jugendamt statt, und auch wenn Bakary anfangs sehr schüchtern war, stand schnell fest, dass die Chemie stimmte. „Es war sehr schnell sehr vertraut“, berichtet Jutta: „Da passten auch Kleinigkeiten.“ Auch von Kindern und Eltern wurde Bakary sofort anerkannt. Vorbehalte gab es hier keine. An Tagen, an denen Jutta länger arbeitet, geht Bakary bei den Großeltern vorbei, nennt sie auch „Oma“ und „Opa“. Bei Opas Geburtstag waren vor kurzem alle Verwandten dabei, da kommen schnell 15 Enkel und fünf Urenkel zusammen, Bakary gehört schon selbstverständlich dazu.

Aufbruch mit 13 Jahren

Seine eigene Familie hat der junge Mann aus Mali seit fünf Jahren nicht gesehen. Mit 13 Jahren wohnte er bereits alleine in einer Stadt des Landes, um dort die weiterführende Schule zu besuchen, die es in seinem Dorf nicht gab. „Als meine Mutter gestorben ist, als ich 13 war, konnte ich die Schule nicht weiter besuchen und auch nicht in mein Dorf zurück“, berichtet er leise über den Start seiner Reise. Er macht sich auf den Weg über Algerien, wo er knapp zwei Jahre u. a. in der Landwirtschaft arbeitet, dann reiste er weiter über Marokko nach Spanien. In Spanien kann er ein halbes Jahr eine Schule besuchen und lernt dort Spanisch.
Dann geht er weiter Richtung Deutschland. Er kennt nur den Begriff „Dortmund“, weil es dort einen Fußballclub gibt. Er mag zwar kein Fußball, hat aber den Städtenamen aufgeschnappt. Hinter der Grenze nach Deutschland ist für ihn seine Reise beendet. Wie viele andere Jugendliche wird er im Oktober 2014 im Zug in Aachen aufgeriffen und in Obhut genommen. Da ist er 16 Jahre alt und seit drei Jahren unterwegs.

Zu dem Zeitpunkt müssen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Gemeinde betreut werden, wo sie aufgegriffen werden. Da in Aachen so viele Jugendliche ankommen, gibt es keinen Betreuungsplatz mehr in einer Kinder- und Jugendeinrichtung und Bakary wird in einem Hotel untergebracht. Das Haus verlässt er nur, um sich ein paar Mal am Tag etwas zu essen zu kaufen. Eine Küche gibt es nicht, auch keinen Schulunterricht. Bakary lernt zwei Mal die Woche in der VHS Deutsch. Die restliche Zeit nutzt er, um mit Hilfe seines Smartphones im Hotel Deutsch zu lernen, Kontakte nach außen hat er kaum. Mit seinen beiden jüngeren Brüdern, die noch in Mali leben, hält er Kontakt: „Sie sind drei und vier Jahre jünger als ich“, erzählt er. Das Jugendamt fragt, welche Form der Unterbringung die Jugendlichen wählen würden, wenn sie die Wahl hätten: Wohnheim, alleine leben oder in eine Familie? Bakary wünschte sich eine Familie.

Im Mai 2015 wird tatsächlich eine Familie für ihn gefunden und er kommt zu Jutta und Ralf nach Brand. Er bekommt auch einen Schulplatz in einer internationalen Förderklasse in der Mies-van-der-Rohe-Schule. Dort schafft er es innerhalb von 14 Monaten, den Stoff von drei kompletten Schuljahren aufzuarbeiten. Nachdem seine Sprachbegabung auffällt – Bakary spricht Bambara, Französisch, Englisch, Spanisch und jetzt Deutsch –, wechselt er an das Berufskolleg nach Stolberg und besucht dort jetzt eine Regelklasse. Über seine Zukunftspläne ist er sich noch nicht im Klaren: „Ich arbeite gerne mit Kindern und mag Sprachen. Technik ist nicht ganz das Richtige für mich“, grenzt er aber ein.
Mit dem Thema „Flüchtlinge“ möchte Bakary niemanden nerven, auch wenn er – wie er betont – keine Probleme hat, darüber zu sprechen. Er empfinde es aber oft als zu viel, wenn man jeden Tag im Radio davon höre.
Manchmal holt das Thema den Jugendlichen dennoch im Alltag ein, etwa wenn die Pfadfindergruppe einen Ausflug nach Österreich plant, er aber nicht mitkann. „Das tut schon weh“, sagt er. Die Pfadfinder haben dann kurz-entschlossen umdisponiert und einen Tagesausflug nach München ausgewählt und die Fahrt so doch noch für alle möglich gemacht.

umfIn den Alltag finden

Jutta und Ralf sind zufrieden mit ihrer Entscheidung. „Unsere Tochter Judith meinte auch, das habe so sein müssen. Da schließt sich ein Kreis“, resümiert Jutta. Sie hätten nach ihrem langjährigen Aufenthalt in Afrika einfach jetzt diesen Schritt gehen müssen.
Hier und da hat es auch etwas gedauert, in den neuen Familienalltag zu finden, bei allen Schritten kann sich die Familie jedoch der kompetenten Unterstützung von Jugendamt und dem Betreuerteam von Maria im Tann sicher sein.
Auch andere Unsicherheiten haben sich schnell geklärt: „Wir wussten anfangs nicht genau, wie das mit dem Essen laufen wird“, berichtet Jutta. So kaufte die Familien erstmal Weißbrot und Nutella in dem Glauben, dass dies notfalls jeder mag, falls ihr Essen nicht so gut ankommt. „Aber Bakary mochte unser selbstgebackenes Vollkornbrot lieber und backt es inzwischen selber für uns.“

Als Vorteil sehen Jutta und Ralf auch den Punkt, dass die eigenen Kinder schon aus dem Haus seien: „Wenn noch jüngere Kinder im Haushalt leben, gibt es sicherlich mehr Konflikte, bis jeder seine Position findet“, berichten sie über die Erfahrungen. Sie selber hätten Glück gehabt, dass alles so gut zusammenpasse. Deshalb hat das Paar auch eine Verlängerung beantragt, die es Bakary erlaubt, mit Unterstützung des Jugendamtes weiter in der Familie betreut zu werden, auch wenn er schon 18 geworden ist.
Ralf nennt Bakary manchmal lachend „unseren Rattenfänger“. Denn Bakary schafft es, einfach alle zu erobern. Und das sind nicht nur die Kinder bei den Pfadfindern. „Am Anfang waren manche reserviert,“ aber inzwischen gehört Bakary überall dazu und trägt laut Ralf zu einem neuen Selbstverständnis bei.
Auch unter Freunden und Bekannten waren anfangs ein paar Menschen skeptisch, wie das so alles ablaufen würde. „Und inzwischen haben einige selber eine Patenschaft für einen jungen Flüchtling übernommen bzw. sind Pflegeeltern,“ erzählt Ralf.


In Aachen leben derzeit über 500 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ab ca. 15 Jahren. Für einige von ihnen werden Pflegefamilien gesucht.
Wer sich vorstellen kann, einen jungen Menschen bei sich aufzunehmen, kann sich z. B. melden bei:
Maria im Tann – Zentrum für Kinder-, Jugend- und Familienhilfe
www.mariaimtann.de
Christian Dreiack, 0241 70505-64, c.dreiack@mariaimtann.de

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