Das Glück, in die Schule gehen zu dürfen – Ein Besuch an der Reformpädagogischen Sekundarschule am Dreiländereck

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„Ich bin 16 Jahr alt und komme aus Eritrea. Seit einem Jahr bin ich in Deutschland, in die Schule gehe ich seit drei Monaten.“ Die Schüler des Förderkurses II an der Reformpädagogischen Sekundarschule am Dreiländereck (kurz RSD Kronenberg) stellen sich vor, reihum. Manche der Jungs strahlen dabei, andere erzählen bedachtsam, fast gemessen, wieder andere wirken ein wenig unsicher und schlagen den Blick nach unten, wenn sie ihre Sätze beendet haben. Die jungen Leute machen ihre ersten Gehversuche in der fremden Sprache und halten sich dabei sehr gut. Innerhalb von zwei Jahren können sie an der RSD Kronenberg ihren Hauptschulabschluss machen; außerdem werden sie gezielt auf das Berufsleben vorbereitet, z. B. durch Praktika. Die jungen Männer zwischen 15 und 18 sind auf den verschiedensten Wegen nach Deutschland gelangt, sie stammen aus Asien, Afrika und Osteuropa. In einem Nachbarkurs geht es sogar noch bunter zu: Hier bereiten sich 14- bis 18-jährige Jungen und Mädchen aus aller Herren Länder auf den Besuch einer Regelklasse vor. Die Hürde ist auch hier wieder die deutsche Sprache, aber die Schüler sind hochmotiviert und lernen schnell. Obwohl manche von ihnen erst seit wenigen Wochen in der Klasse sind, skandieren sie mit großer Sicherheit unregelmäßige Verben, identifizieren den Kasus von Substantiven und stellen Satzteile um.

Schüler stehen unangemeldet vor der Tür und bitten darum, unterrichtet zu werden

Der Platz an der RSD Kronenberg ist für die Jugendlichen das große Los: Die meisten mussten monatelang warten, bis sie endlich hier unterkamen. „Um die hundert unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Aachen werden derzeit nicht beschult“, berichtet Schulleiterin Helga Pennartz, „Das Warten macht sie völlig mürbe, die möchten unbedingt in die Schule. Sie wollen Deutsch lernen und sich einbringen. Immer wieder stehen sogar junge Leute unangemeldet bei uns vor der Tür, die uns inständig bitten, sie zu unterrichten. Es zerreißt uns das Herz, dass wir sie wegschicken müssen.“ Eigentlich haben die Kinder und Jugendlichen ein Anrecht auf Beschulung bzw. gilt für sie nach nordrhein-westfälischem Landesrecht die Schulpflicht genauso wie für einheimische Kinder – allein es fehlen die Kapazitäten. Die Stadt Aachen ist von der hohen Anzahl minderjähriger Flüchtlinge überrascht worden und sucht derzeit nach Lösungen für alle betroffenen Schüler. Eine krasse Ungleichbehandlung bleibt es dennoch, wenn die Jugendlichen keinen Platz an einer Schule bekommen; einem Kind mit deutschem Pass über Monate hinweg den Schulbesuch zu verweigern, wäre undenkbar. „Vor allem wenn sie in Hotels untergebracht sind, fällt es den Jugendlichen extrem schwer, über die lange Zeit die Motivation zu behalten. Sie haben so viel Tatkraft, sind aber zum Nichtstun verdammt. Manche, die sich gut entwickelt hätten, wenn sie sofort in eine Schulklasse integriert worden wären, stürzen dann völlig ab, werden depressiv oder machen Dummheiten“, sagt Lehrerin Petra Naumann. „Immerhin: Es sieht so aus, als würde das Jugendamt demnächst an unserer und anderen Schulen Tagesgruppen für die Jugendlichen einrichten, die in Hotels untergebracht sind. So bekommen sie zumindest ein bisschen Tagesstruktur und können erste Deutschkenntnisse erwerben“, sagt Helga Pennartz. Auch die Versorgung in den Hotels ist aus ihrer Sicht ein Problem: „Die jungen Leute bekommen dort Frühstück und ein bisschen Geld für die weiteren Mahlzeiten. Das reicht aber bestenfalls mal für einen Döner. Die Möglichkeit, sich selbst etwas zu kochen, haben sie nicht. Und natürlich fehlt auch der soziale Aspekt des gemeinsamen Essens. Das ist einer der Gründe, warum wir den Jugendlichen hier ein kostenloses Frühstück und ein gesundes gemeinsames Mittagessen anbieten. Die Schüler sind davon total begeistert. Finanziert wird das von Sponsoren und dem Projekt ‚Aachener Kindern den Tisch decken‘.“

Auch über die Schulspeisung hinaus kann die RSD Kronenberg den Schülern einiges bieten, zum Teil dank eines über Jahre gewachsenen Netzwerks aus engagierten Ehrenamtlern, befreundeten Institutionen und Betrieben. „Einige Leute machen tolle Projekte mit den Kindern. Wir haben zum Beispiel zwei Damen, die einen Chor mit den Schülern aufgezogen haben und mit ihnen singen und trommeln. Die Schüler finden das großartig. Eine andere Ehrenamtlerin ist Kunsttherapeutin und bietet Malkurse an. Oft sind es genau solche Kontexte, in denen sich auch verschlossene Jugendliche öffnen können“, so Helga Pennartz. Angesichts des gut funktionierenden Zusammenspiels zwischen allen Beteiligten und der vielen unbeschulten Flüchtlinge erscheint es umso unverständlicher, dass die Stadt noch immer nicht an dem Schließungsbeschluss für die Schule rütteln will; zum Sommer 2016 soll der Unterricht am Kronenberg auslaufen. „Die Entscheidung fiel zu einem Zeitpunkt, als noch überhaupt nicht mit einem solchen Zustrom an unbegleiteten Minderjährigen zu rechnen war“, erklärt die Schulleiterin.  Der überprüfungsbedürftige Beschluss lässt auch unberücksichtigt, dass mit dem Verschwinden der RSD Kronenberg auch ein einzigartiges Kompetenzzentrum in Sachen Flüchtlingsbeschulung zerschlagen würde. Das Kollegium ist auf die Förderung von Schülern ohne Deutschkenntnisse spezialisiert, arbeitet seit Jahren mit minderjährigen Flüchtlingen und greift auf einen großen Erfahrungsschatz im Umgang mit seelisch erschütterten jungen Menschen zurück. „Circa ein Viertel bis ein Drittel der minderjährigen Flüchtlinge an unserer Schule ist schwer traumatisiert“, schätzt Helga Pennartz. Sie kennt die Geschichte jedes einzelnen Schülers: „Manche Schicksale sind so schrecklich, dass man es selbst kaum ertragen kann.“ Die Tatkraft, mit der viele Schüler ihr Schicksal in die Hand nehmen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, wie fragil ihre Verfassung ist. „Sobald ein Antrag abgelehnt wird oder sich das Verfahren verzögert, brechen sie völlig ein. Sie reagieren dann zum Teil psychosomatisch und werden krank. Andere ziehen sich zurück und werden völlig teilnahmslos“, erklärt Helga Pennartz. Den professionellen Umgang mit den Problemen der Schüler haben sich die Lehrer an der RSD im Wesentlichen selbst beigebracht. „Fortbildungen zum Thema sind selten. Man braucht Übung, um damit zurechtzukommen. Wir merken auch, dass das jungen Kollegen schwerfällt, wenn sie an die Schule kommen. Wir helfen uns dann gegenseitig und betreiben kollegiale Fallberatung. Außerdem arbeiten wir mit externen Supervisoren“, erklärt Helga Pennartz.

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Dem Grauen, das sie erlebt haben, zum Trotz entfalten die Schüler ein enormes Potential – sofern sie sich sicher fühlen, wahrgenommen werden und eine Perspektive entwickeln. „Manche der Jugendlichen bringen auch schon erstaunliche Fertigkeiten mit“, erzählt Petra Naumann. „Wir haben zum Beispiel einen Schüler, der offenbar in seiner Heimat als Tischler gearbeitet und traditionelle Handwerkstechniken gelernt hat. Als er ein Praktikum in der Schreinerei gemacht hat, riefen die Ausbilder bei uns an; sie waren völlig baff, weil der Junge die fantastischsten Dinge kann. Er beherrscht das Intarsienlegen und hat traumhafte verzierte Holzschalen gefertigt.“ Auch Schulsozialarbeiterin und Waldpädagogin Ute Reifferscheidt, die mit den Schülern im Schulgarten arbeitet, ist von den Vorkenntnissen mancher Schüler beeindruckt: „Einigen Jugendlichen brauche ich im Garten nicht mehr viel zu erklären. Sie bringen das entsprechende Wissen und die manuell-körperlichen Fertigkeiten aus ihrer Heimat mit, wo sie sich bei der Garten- und Landarbeit beteiligt haben; vor allem Jugendliche, die aus Afrika stammen. Sie sehen, was getan werden muss, und packen sofort mit an. Keine Arbeit ist ihnen zu viel oder zu schwer.“

Um sich gut zu entwickeln, brauchen die Jugendlichen Halt, Konstanz und Verständnis. Aber allzu oft geraten sie auch in Deutschland zwischen die Fronten, haben im Papierkrieg mit Ausländerbehörden das Nachsehen, sehen sich mit absurden bürokratischen Strukturen konfrontiert. Helga Pennartz hofft, dass sich künftig noch mehr Menschen dafür einsetzen, den Flüchtlingen die Integration zu erleichtern: „Gebraucht werden vor allem Paten für die jungen Erwachsenen. Wenn die Schüler achtzehn werden, müssen sie aus dem Heim oder der Wohngruppe ausziehen und sind plötzlich ganz auf sich alleine gestellt. Sie müssen ihren Papierkram erledigen, sich versorgen und ihr Leben organisieren. Das bekommen ja schon die wenigsten normalen Jugendlichen so einfach hin.“ Patenschaften werden über das Projekt „Aachener Hände“ vom SKM vermittelt.

Fotos: Birgit Franchy

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