„Carmen“ am Theater Aachen: Die ewige Geschichte um Leid und Liebe

in Kultur, Musik, Theater für Kinder

Carmen, die wunderschöne Zigeunerin aus der Zigarettenfabrik, und Don José, katholisch konservativer Gendarm, verlieben sich. Carmens Liebe zur Freiheit, der sich sogar Theodor W. Adorno in seiner Schrift „Fantasia sopra Carmen“ gewidmet hat, drängt sie aber alsbald in die Arme des Toreros Escamillo und somit in den Tod.

Eine zarte Brise aus der West Side weht über die Bühne. Aber es sind nicht die Jets und nicht die Sharks, die mit Gejaule und Testosteron-Gehabe über die Metallstäbe hangeln. Es sind die spanische Gendarmerie und das Straßenvolk, und wir sind mitnichten im New York von Komponist Leonard Bernstein, sondern vielmehr im Spanien der Regisseurin Lucia Astigarraga. Es sind die hoffnungsgeschwängerten 2000er Jahre, eine Zeit des Janus – der römische Gott des Anfangs und des Endes –, in der man mit einer Träne dem guten alten Jahrtausend nachweint und mit einem Lächeln die Zukunft begrüßt. Aber ob New York oder Sevilla, damals oder heute, die Gesellschaft hat sich wenig geändert. Immer noch prallen kulturelle Schichten und moralische Vorstellungen aufeinander. Diversität ist zwar zum Modebegriff geworden, in den Köpfen ist sie jedoch noch lange nicht angekommen. Und schon gar nicht vor 20 Jahren.

Erschreckend, wie wenig sich seit dem Jahr 1875 – Uraufführung der Oper „Carmen“ – verändert hat. Viele Generationen später präsentiert uns Regisseurin Lucia Astigarraga eine Gesellschaft, die nach wie vor auf einem durchgelaufenen Seil balanciert, hin und her zwischen Konservatismus und Fortschritt, wo religiöser Eifer und Korruption Hand in Hand gehen, wo man das Andersartige zwar verdammt, aber gleichzeitig wie von einem Magneten von ihm angezogen wird.

Es ist nicht verwunderlich, dass die Inszenierung stark an „West Side Story“ erinnert. Sowohl das Bühnenbild von Aida Leonor Guardia als auch die Kostüme von Annemarie Bulla versprühen einen rauen Hinterhof-Feuerleiter-Charme. Es ist nichts „Großes“, was wir auf der Bühne sehen, kein spanisches Flair, kein romantischer Kitsch, keine überbordende Opernausstattung. Genauso wenig „Groß“ ist die Inszenierung selber. Trotz der endlich vollen Bühne mit Opernchor, Kinder- und Jugendchor und Extrachor wirkt sie entrückt bodenständig, und gerade weil sie die Erwartungen an eine Carmen-Inszenierung nicht ganz erfüllt, ist diese Inszenierung absolut faszinierend. Wie soll man aber auch ein Stück, das regelmäßig unter den Top 10 der meistgespielten Opern zu finden ist, auf die Bühne bringen, ohne des Ideenklaus bezichtigt zu werden, und der Inszenierung zudem die Portion Eigenwilligkeit und Persönlichkeit geben, die jeder im Zuschauerraum und in den Kritikerrängen von der geplagten Regisseurin – und wegen der Diversität, vom geplagten Regisseur – erwartet?

Vielleicht genau so, wie Lucia Astigarraga das gemacht hat. Man nehme dem Stoff das „Große“ und kleide Carmen nicht in ein rotes Rüschenkleid, sondern in eine Leopardenprint Knotenbluse – gut, der knallenge rote Minirock ist ein ziemlich guter Ersatz für Rüschen. Man lasse den Torero mit einem roten Ikea Handtuch auftreten und gebe den Zigarettenfabrikarbeiterinnen eine feine Kaurismäki-Aura. Gefühlt ist alles anders, als das, was man erwarten würde. Als wäre man Zeuge einer Nicht-Inszenierung. Ich gebe zu, die Idee, Carmen als Transgender zu outen, um so ihre Charakter- und Willensstärke zu begründen, hat mich erst schockiert, dann verärgert (weil nicht ganz verständlich) und dann auch wiederum völlig fasziniert. Das ist schon so dreist, dass es kultverdächtig ist. Was wohl Adorno dazu gesagt hätte?

Operninszenierungen gehören zu den üppigsten Darstellungen auf der Bühne. Doch das, was übrig bleibt, wenn man die Augen schließt und nur den Tönen lauscht, ist wichtiger als jedes Stück Brokat, das von der Decke hängt. (Wobei ich hier anmerken muss, dass ich für von der Decke hängenden Goldbrokat durchaus etwas übrig habe.)

Weicher Klang, stark aber nicht aufdringlich, Raum lassend und Raum schaffend. Mit dem Tenor Carlos Moreno Pelizari hat sowohl Don José, der verschmähte Liebhaber, als auch das Theater Aachen einen Glücksgriff gemacht. Seit der Spielzeit 2021/2022 ist Pelizari festes Ensemblemitglied. Der reiche und satte Bariton von Csaba Kotlár als Escamillo, wie auch seine ganze Erscheinung, machen ihn zum Sinnbild eines modernen Opernhelden. Die Französin Anne-Aurore Cochet ist eine ideale Besetzung für die zarte und durch und durch brave Micaëla, eine Jugendfreundin Don Josés. Ihr kristallklarer Sopran klingt zerbrechlich und doch willensstark. Anna Graf und Ziqi Huang als Frasquita und Mercédès (Sopran und Mezzosopran), zwei Freundinnen an Carmens Seite, überzeugen mit frechem Auftreten und einer fein nuancierten stimmlichen Darstellung. Auch die beiden Schmuggler Dancaïro (Stephen Barchi) und Remendado (Marcel Oleniecki) sind eine Augen- und Ohrenweide. Besonders Marcel Oleniecki als Dragqueen sorgt für Schmunzler in den Zuschauerrängen.

Aber der Abend gehört eindeutig Fanny Lustaud. Welch eine Kraft! Welch eine Ausstrahlung! Mit ihrem betörenden Mezzosopran gibt sie der Figur Carmen eine ganz neue Note, etwas rauer und forscher als gewohnt, mit unterschwelligem Sexappeal und einer dringenden Präsenz, ganz nach dem Lebensmotto: Hier bin ich, nehmt mich, wie ich bin oder lasst es sein. Fanny Lustaud versteht die Heldin offensichtlich. Sie gibt ihr Freiraum, zwingt sie in kein Korsett, verleiht ihr eine Einzigartigkeit, die Carmen sicherlich gefallen hätte. Es macht Freude der jungen Mezzosopran zuzuhören und auch zuzusehen, denn ihr Spiel wahrt die Balance zwischen Aufdringlichkeit und Zurückhaltung. Sie zeigt genau das Maß an Präsenz, das die Rolle verlangt, und will sich zu keinem Zeitpunkt vor ihre Figur stellen. Bravo!

Die Uraufführung in Paris 1875 war ein Flop. Für Gutbürger war es doch etwas zu viel, eine moralisch eher fragwürdige Titelfigur zu bejubeln. Auch war das Setting in einem armen Milieu unter dem Niveau der damaligen Operngänger. Diese versnobte Haltung hat sich nach dem Erfolg in Wien, ein paar Monate nach der Uraufführung, ins Umgekehrte gewandelt. Die Aachener Inszenierung ist ein lebendiges, zeitgemäßes und überaus unterhaltsames Stück Opernkultur.

Termine „Carmen“:
httheateraachen.de/de_DE/produktionen/carmen

Bleibe immer auf dem Laufenden

Ich will nichts verpassen und möchte wöchentlich den kostenlosen KingKalli-Newsletter erhalten und über aktuelle Themen und Termine auf dem Laufenden gehalten werden.

Ich bin damit einverstanden, den Newsletter zu erhalten und weiß, dass ich mich jederzeit problemlos wieder abmelden kann.

Hinterlasse einen Kommentar