„Objektiv betrachtet war alles gut.“

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Hilfe bei postpartaler Depression: Ein Besuch bei den „Frühen Hilfen Aachen“

In den Räumlichkeiten der Frühen Hilfen Aachen. Ruth Renz, Hebamme und Ansprechpartnerin für Familien in schwierigen Lebenssituationen, empfängt Sandra, eine ihrer Klientinnen. Sandra, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, leidet unter einer postpartalen Depression.

Kürzlich sind sie, ihr Lebensgefährte und die beiden Töchter nach Stolberg umgezogen, aber Ruth Renz ist nach wie vor eine wichtige Vertrauensperson für sie. „Die Zeit nach meiner ersten Entbindung war furchtbar“, erzählt Sandra, „Objektiv betrachtet war alles gut; die Geburt verlief super, meine Tochter war gesund, die Familie glücklich, und nach drei Tagen konnte ich aus der Klinik nach Hause. Aber nach ein paar Wochen ging es bergab.“ Zwar war Sandras Bindung zu ihrer Tochter nie gestört, aber sie war außer Stande, sich um sich selbst zu kümmern: „Ich fühlte mich schlapp, hilflos und antriebslos. Außerdem habe ich viel Gewicht verloren. Ich habe das Kind versorgt, aber mich nicht. Und irgendwann kamen Ängste und Schlafstörungen dazu. Das größte Problem war, dass ich nicht wusste, an wen ich mich wenden sollte. Meine Eltern kamen nicht damit zurecht, dass ich überfordert war, mein Lebensgefährte musste nach zwei Wochen wieder arbeiten, und von anderen Müttern erntete ich Unverständnis. Nach dem Motto: Die hat doch alles, gesundes Kind, gute Beziehung, netten Job.“ – „Das passt nicht ins Bild einer frischgebackenen Mutter“, ergänzt Ruth Renz. „Oft steht implizit der Vorwurf im Raum, die Frauen seien undankbar, wehleidig oder überspannt. Abgesehen davon, dass das nicht stimmt: So eine Stimmung trägt dazu bei, dass sich die Mütter gar nicht mehr trauen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Viele warten, bis sie völlig am Ende sind, weil sie selbst von Hebammen und Ärzten zu hören bekommen, sie müssten die ersten Wochen einfach durchhalten. Aber das bloße Überleben reicht doch nicht! Es ist keine Niederlage festzustellen, dass etwas nicht stimmt. Im Gegenteil.

Auch bei Sandra war nicht ihre schlechte psychische Verfassung Anlass, ärztliche Hilfe einzuholen, sondern der auffällige Gewichtsverlust. Schilddrüse, Stoffwechsel, Entzündungswerte: Sandra wurde von einem Arzt zum nächsten überwiesen und auf Herz und Nieren überprüft, aber körperlich war mit ihr alles in Ordnung. Ein Jahr lang schleppte sie sich mit Mühe und Not durch den Alltag; der Versuch, nach der Elternzeit in den Beruf zurückzukehren, trieb sie schließlich über die Belastungsgrenze. Sandra zog die Notbremse und begab sich zur stationären Behandlung in eine Klinik. Diagnose: Schwere depressive Episode; an eine Wochenbettdepression dachte noch immer niemand. Die Behandlung erfolgte vorrangig mit Medikamenten, auch in der nachstationären Zeit. „Ich hatte mit mehreren Psychiatern Pech“, erzählt Sandra. „Erst der dritte hat mir zu einer Psychotherapie geraten und die medikamentöse Behandlung hinterfragt. Dabei hatte ich von Anfang an schwere Nebenwirkungen von den Psychopharmaka. Vermutlich habe ich eine Veranlagung zu depressiven Erkrankungen, aber ich habe beim zweiten Kind erlebt, dass ich gut ohne Medikamente zurechtkomme, wenn ich genug andere Unterstützung bekomme. Ich hatte so große Angst, dass es mir wieder so schlecht gehen könnte, dass ich schon in der Schwangerschaft zu den Frühen Hilfen gegangen bin. Den Tipp hat mir meine Beleghebamme gegeben. Darüber bin ich heilfroh.“ In Sandras Fall hat eine Kombination aus verschiedenen Maßnahmen dazu geführt, dass sie die Zeit nach ihrer zweiten Entbindung viel entspannter erlebt hat. Die Gynäkologin verordnete eine Haushaltshilfe, die Sandra schon zum Ende der Schwangerschaft hin entlastete. Und auch jetzt, acht Monate nach der Geburt, kauft die gute Fee noch für die Familie ein und kocht regelmäßig, damit Sandra das Essen nicht vernachlässigt. Der Psychiater ist so kulant, Telefonsprechstunden anzubieten, damit Sandra ihre beiden Töchter für die Behandlungszeit nicht „wegorganisieren“ muss. Außerdem hat sie nach langer Suche endlich einen Therapeuten gefunden, von dem sie sich gut begleitet fühlt; die Kinderbetreuung während der Therapie wird von den Frühen Hilfen gestellt.

Koordiniert wurden die verschiedenen Hilfsmaßnahmen von Ruth Renz, die sich als Case-Managerin versteht. Sie ermittelt gemeinsam mit ihren Klientinnen, welche Art von Unterstützung benötigt wird, und entwickelt mit ihnen Strategien für ein individuelles „Worst-Case-Szenario“, so dass die Frauen auch für schlimme Krisen gewappnet sind und die Kontrolle über das Geschehen behalten. Sie begleitet die Mütter auf Wunsch zu Ärzten, Therapeuten und Behörden, stellt die nötigen Anträge und vermittelt zwischen allen Beteiligten – solange und soweit die Klientientinnen dies möchten, denn die Mitarbeiterinnen der Frühen Hilfen haben Schweigepflicht. „Bei anderen Frauen kann die Lösung auch ganz anders aussehen“, erklärt Ruth Renz „Manchmal ist eine vom Jugendamt finanzierte Tagesmutter die entscheidende Entlastung, ein anderes Mal von der Krankenkasse bezahlter Urlaub für den Vater, in einem dritten Fall reichen Gespräche oder Unterstützung beim Papierkram. Und auch die Partner darf man nicht außer Acht lassen, die stehen der Sache oft hilflos gegenüber, weil sie ihre Frauen so nicht kennen.“ Voraussetzung für das gut funktionierende System ist, dass richtig erkannt wird, welche Ursachen den Symptomen zugrunde liegen. Dadurch, dass Sandras Wochenbettdepression im Rückblick als solche erkannt wurde, war es möglich, bei der zweiten Schwangerschaft gezielte Maßnahmen zu ergreifen. „Für mich ist es auch sehr wichtig, dass ich mir die Hilfe von außen holen kann. Denn ich möchte bestimmte Probleme nicht mit der Familie lösen, die sind ja schließlich alle mitbetroffen“, stellt Sandra fest „Schade, dass es hier in der Nähe keine spezifischen Selbsthilfeangebote gibt. Weder für uns noch für unsere Angehörigen. Ich kann anderen Müttern jedenfalls nur raten, Warnhinweise ernst zu nehmen und auszusprechen, dass sie Hilfe brauchen. Auch wenn es unendlich viel Überwindung kostet. Offen über die Wochenbettdepression zu reden fällt auch mir sehr schwer, meine Angst vor Vorurteilen und beruflichen Nachteilen ist zu groß. Dabei ist es keine Verfehlung, krank zu sein. Aber hätte ich schon nach meiner ersten Entbindung von den Erfahrungen anderer Betroffener gewusst, hätte ich vermutlich früher fachliche Hilfe gesucht.“

Kontaktdaten der Frühen Hilfen Aachen:
Frühe Hilfen (Kinderschutzbund Aachen)
Kirberichshofer Weg 27/29, 52066 Aachen
0241 9499430
fruehehilfen@kinderschutzbund-aachen.de
www.kinderschutzbund-aachen.de/fruehe-hilfen

Weiterführende Links:

Dissertation über postpartale depressive Störungen von Verena Elisabeth Spremberg von 2010, abrufbar vom Server der Universität Bonn: http://hss.ulb.uni-bonn.de/2010/2109/2109.pdf

Information über PPD auf den Seiten der Marcé-Gesellschaft mit dem DASS-P-Fragebogen: www.marce-gesellschaft.de

Link zur deutschen Fassung der EPDS:
sggg.ch

Seiten der Selbsthilfeorganisation Schatten & Licht e. V.:
www.schatten-und-licht.de

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