Drei jugendliche Flüchtlinge erzählen

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Ihre Geschichte zu erzählen, fällt vielen Flüchtlingen schwer. Sie alle haben zwei Leben, eines vor der Flucht, eines danach. Verbunden sind die beiden Leben durch den Transit, der, so unterschiedlich er im Einzelnen abläuft, eine Zeit der Ungewissheit und der Angst darstellt. Auch bei Palash, Emabet und Hamid ist das so. Sie sind als minderjährige unbegleitete Flüchtlinge nach Aachen gekommen und leben seit zwei bis vier Jahren hier. Alle drei haben sich in ihrem neuen Leben zurechtgefunden und sind – welch simples Wort für einen so komplexen, kräftezehrenden Vorgang – integriert. Sie haben in kurzer Zeit Deutsch gelernt, werden an der RSD Kronenberg ihren Haupt- oder Realschulabschluss schaffen und dürfen aller Voraussicht nach dauerhaft bleiben. Wenn sie von ihren Zukunftsplänen sprechen, blühen sie auf. „Ich möchte gerne eine Ausbildung als Krankenpflegeassistent machen“, sagt Palash, mit 19 Jahren der älteste der drei. Man zweifelt keine Sekunde, dass der besonnene, aufmerksame Bengale eine Bereicherung für jedes Pflegeteam wäre. Er macht es anderen leicht, mit ihm in Kontakt zu treten, ist verbindlich und entgegenkommend.

Flucht in Todesangst

Palashs Flucht aus Bangladesch stellt für ihn die Trennung von allem dar, was bis dahin bedeutsam war, im Guten wie im Schlechten. „Irgendwann kamen Leute in unser Dorf, die mir Arbeit angeboten haben“, erzählt Palash, „ich habe mir nichts dabei gedacht und den Job angenommen. Aber irgendwann habe ich herausgefunden, dass die Gruppe, für die ich gearbeitet habe, Terroranschläge geplant hat. Ich wollte sofort weg, aber sie ließen mich nicht gehen. Sie haben gesagt, dass sie mich umbringen, wenn ich aussteige.“ Heimlich setzte sich der damals 16-Jährige zu einem Onkel nach Chittagong ab, einer Großstadt mit riesigem See- und Abwrackhafen. Ein letztes Mal konnte er von dort aus mit seiner Mutter telefonieren, die nach Palashs Verschwinden von Mitgliedern der islamistischen Terrorgruppe JMB krankenhausreif geschlagen worden war. „Sie haben unser Haus angezündet, meine Mutter musste das Dorf verlassen. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist, ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr und mache mir große Sorgen. Zurückkehren, um nach ihr zu suchen, kann ich nicht. Wenn ich von der JMB erwischt werde, bringen sie mich um“, erzählt Palash. Von seinem Onkel wurde der Junge einem Schleuser übergeben. Auf einem Frachtschiff gelangte er nach Frankreich und von dort aus nach Aachen. Sein „Gepäck“: die Geburtsurkunde.

Der Traum von einer Ausbildung

Emabet ist eine junge Äthiopierin mit sonnigem Lachen, die einen lebenslustigen Eindruck macht. Doch wenn sie auf ihre Vergangenheit angesprochen wird, zieht sich sofort zurück. Ihr früheres Leben ist tabu. Seit drei Monaten wohnt die 18-Jährige alleine. Nach ihrem Geburtstag musste sie aus Maria im Tann ausziehen, wo sie sich geborgen und aufgehoben gefühlt hatte. „Klar, es hat auch Vorteile, alleine zu leben, aber ich wäre lieber noch im Heim geblieben“, erzählt Emabet, „Es ist nicht einfach, alleine zurechtzukommen, alles selbst zu organisieren, den Haushalt, die Termine und so.“ Wie die meisten Schüler in ihrem Alter ist sie kein Kind mehr, aber auch noch nicht ganz erwachsen. Sie schafft es, sich einigermaßen zu strukturieren, hat aber auch noch ein paar Flausen im Kopf. Ihre Zunftspläne jedoch haben Hand und vor allem Fuß: „Ich habe ein Praktikum in einem Schuhgeschäft gemacht. Das hat mir sehr gut gefallen. Ich kann mir gut vorstellen, in diesem Bereich eine Ausbildung zu machen.“ Wie Palash scheint auch Emabet ein gutes Gespür für die eigenen Stärken zu haben. Ein Beruf mit viel Kundenkontakt wäre für das kommunikative Mädchen sicher genau richtig.

2,5 Jahre unterwegs: „Wir haben Blätter gegessen.“

Hamid ist mit 16 Jahren der Jüngste von den dreien. Der junge Afghane strahlt von innen heraus, seinem einnehmenden Wesen kann man sich kaum entziehen. Dass er überhaupt noch lebt, ist ein Wunder. Geschlagene zweieinhalb Jahre befand sich der Junge auf der Flucht. Sein Vater war zuvor als Unbeteiligter bei einer Schießerei zwischen den Taliban und amerikanischen Soldaten ums Leben gekommen: „Als mein Vater nicht von der Gartenarbeit zurückkam, habe ich ihn gesucht. Als ich seine Leiche fand, bin ich ohnmächtig geworden.“ Mit dem Tod des Vaters begann für den gerade einmal 11-Jährigen ein Martyrium. Seine Mutter wurde nach afghanischer Sitte mit dem Bruder ihres verstorbenen Mannes zwangsverheiratet: „Sie haben gesagt, dass sie uns alle hängen, wenn sie nicht einwilligt. Sie wäre selbst lieber gestorben, aber sie hatte Angst um mich und meine Geschwister und hat irgendwann nachgegeben.“ Der gewalttätige Onkel stellte sich als aktives Mitglied einer Talibanmiliz heraus. Als die Mutter erfuhr, dass ihr Mann plante, Hamid in ein Ausbildungslager in Pakistan zu verschleppen, drängte sie ihren Sohn zur Flucht. Das Kind irrte durch sechs verschiedene Länder und lief hunderte Kilometer zu Fuß. Hamid lebte auf der Straße, wurde in Kellerlöchern versteckt und schlief wochenlang mit einer Flüchtlingsgruppe im Wald: „Wir hatten solchen Hunger, dass wir Blätter gegessen haben. Manche haben ihre Schuhe gegessen.“ Zu seinem Glück traf er unterwegs einen anderen afghanischen Jugendlichen, der, selbst noch ein Kind, für ihn die Rolle eines älteren Bruders übernahm. Der Freund wurde zu Hamids Lebensretter. Bei der illegalen Überfahrt nach Italien schlug das überfüllte Schlauchboot leck, in dem sich die Kinder befanden: „Ich kann nicht schwimmen, aber der Schleuser hat uns vor der Küste von Bord geworfen. Ich habe das Bewusstsein verloren. Als ich wieder wach wurde, lag ich am Ufer. Mein Freund hatte mich aus dem Meer gezogen und so lange auf meine Brust geschlagen, bis das Wasser aus meiner Lunge kam.“ Mit dem Zug gelangten die Kinder schließlich nach Aachen: „Wir haben jede Stunde den Zug gewechselt, um nicht kontrolliert zu werden. Wir wussten überhaupt nicht, in welchem Land wir waren. Als uns dann die Polizei erwischt hat, habe ich geschrien. Ich verstand kein Wort und hatte Angst, sie würden uns foltern. In Afghanistan gehen Polizisten sehr brutal mit Kindern um.“

Wie Palash und Emabet ist auch Hamid den furchtbaren Erlebnissen zum Trotz empfindsam und warmherzig geblieben. Vielleicht wird er einmal in einem helfenden Beruf arbeiten, ein Praktikum im Seniorenheim hat er bereits gemacht. „Die alten Menschen dort waren toll. Eine Frau war schon über 100. Sie war unglaublich klug; Politik, Geschichte, sie wusste einfach alles. Zwei Weltkriege hat sie erlebt“, erzählt er begeistert. Doch obgleich er sich selbst nun in Sicherheit befindet, ängstigt sich Hamid sehr um seine Mutter und seine jüngeren Geschwister, die sich noch in der Gewalt des Onkels befinden. Wie alle jungen Flüchtlinge muss er mit ambivalenten Gefühlen zurechtkommen, darunter vielfach Überlebensschuld bzw. das Gefühl, Angehörige im Stich gelassen zu haben. Das alte Leben wird im neuen immer präsent bleiben. Die Chance, Deutschland zu ihrer neuen Heimat zu machen, an der Gesellschaft teilzuhaben, sich sicher zu fühlen und sich persönlich und beruflich zu entwickeln, haben die jungen Flüchtlinge nicht nur verdient, sie steht ihnen verdammt noch einmal zu.

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