Der Schrift verschrieben: Schreibtraining mit Herz und Verstand

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„Wenn Kinder die eigene Handschrift entdecken, entdecken sie auch ein Stück von sich selbst.“ Gudrun Ruppel ist nicht nur Lehrerin an der Gemeinschaftsgrundschule Alsdorf Ofden, sondern auch Expertin für die Vermittlung von Schreibschrift – heutzutage nicht mehr selbstverständlich bei Primarstufenpädagogen. „In den 1970er und 80er Jahren wurden in den meisten Bundesländern die Pädagogischen Hochschulen aufgelöst, auch die Lehrerausbildung für die Primarstufe findet seitdem an den Universitäten statt. Hier spielt das Erstlesen und -schreiben aber leider eine untergeordnete Rolle,“ erklärt Gudrun Ruppel. Wie man den Kindern die Feinheiten der Schreibschrift vermittelt, also einer „Laufschrift“ (Kurrentschrift), die sich von geübten Schreibern schnell und ausdauernd schreiben lässt, tritt neben anderen, durchaus ebenfalls wichtigen Themen wie Inklusion in den Hintergrund. Viele plädieren sogar dafür, die Schreibschrift ganz aus dem Lehrplan zu streichen; in Hamburg ist dies bereits der Fall.

Schreibschrift abschaffen?

Es reiche, den Kindern Druckschrift beizubringen. Die sei angesichts der schlechten feinmotorischen Leistungen vieler Schüler besser zu lesen, und später benutze man ohnehin nur noch elektronische Eingabegeräte. Von geübten Schreibern wird die Schreibschrift schneller und flüssiger geschrieben als Druckschrift, doch sie ist auch komplexer und deshalb schwieriger zu erlernen. Aber ist es wirklich die richtige Reaktion auf die schlechte feinmotorische Entwicklung mancher Erstklässler, ein Angebot aus dem Lehrplan zu nehmen, bei dem sie ebendiese Fähigkeiten schulen könnten? Gudrun Ruppel hält das für bedenklich: „Es stimmt, dass sich mehr Schüler als früher schwertun, lesbar zu schreiben. Aber wenn die Kinder die nötigen Voraussetzungen nicht mitbringen, sollten wir ihnen einen Vorkurs mit Koordinationsübungen anbieten. Manchmal haben die Kinder noch nicht gelernt, auf ihre eigenen Sinneswahrnehmungen zu achten, und die Hand-Auge-Koordination funktioniert noch nicht richtig. Manchmal ist auch eine falsche Handhaltung der Grund für die Schreibprobleme. Am besten ist es, wenn schon die Erzieher im Kindergarten spielerische Schreibvorübungen anbieten und darauf achten, dass die Kinder sich auch beim Malen eine gute Stifthaltung aneignen. Aber viele Schulanfänger haben sich bereits eine unvorteilhafte Haltung angewöhnt. Es ist für die Kinder sehr mühsam, sich das wieder abzutrainieren.“ Eltern können auch selbst darauf achten, dass ihre Kinder den Dreipunktgriff verwenden, also den Stift zwischen Zeigefinger, Mittelfinger und Daumen führen. Die Hand ist so nicht unnötig angespannt und kann den Stift präzise führen.

Selbstlernkonzepte nicht immer sinnvoll

Da gezielte Schreibförderung Mangelware ist, bietet Gudrun Ruppel seit zwei Jahren selbst entsprechende Kurse an: „Vielfach sind es Jungs, die von ihren Eltern oder Lehrern geschickt werden. Manche sind anfangs skeptisch, aber dann macht es ihnen richtig Spaß, weil sie mit ihrem Schriftproblem ernst genommen werden und sehr schnell Erfolge sehen. Einen hoffnungslosen Fall habe ich noch nicht erlebt.“ Die Schüler dürfen bei Gudrun Ruppel mit Kreide Schwungübungen an der Zimmerwand machen, sie schreiben zu Musik und spüren mit dem Zeigefinger in Sand den kleinen Bögen und Schleifen der Buchstaben nach. „Die Kinder wollen ja gerne gut schreiben können. Wenn das nicht klappt, bekommen sie oft zu hören, sie müssten sich einfach mehr Mühe geben. Was genau die Kinder verändern müssen, wissen die Eltern und Lehrer aber meistens selbst nicht so genau. Hinzu kommt, dass an den Grundschulen immer mehr mit Selbstlernkonzepten gearbeitet wird. Auch die einzelnen Buchstaben sollen sich die Kinder dann mit Lernheften selbst erschließen. Selbstlernen ist richtig gut, wenn die Kinder die Basisfähigkeiten wie Lesen und Schreiben bereits können. Ich setze das zum Beispiel im Sachunterricht im dritten und vierten Schuljahr mit großer Begeisterung ein. Aber um eine gute Handschrift zu entwickeln, mit der man später auch mal 20 Klausurseiten ohne Anstrengung vollschreiben kann, brauchen die meisten Kinder gezielte Anleitung und viel Übung. Wenn sie andere komplexe motorische Abläufe lernen, wie zum Beispiel ein Instrument spielen, müssen sie auch zuerst von jemandem die richtige Technik lernen, der das gut kann. Später, wenn die nötigen Automatismen sich gebildet haben, fangen sie vielleicht an zu improvisieren, aber nicht umgekehrt. So ist es auch mit dem Schreiben.“ Dabei geht es Gudrun Ruppel explizit nicht um Schönschrift: „Die Handschrift ist genauso Ausdruck der Persönlichkeit wie die Stimme; die kann man ausbilden, aber man sollte ihren Charakter nicht verändern. Ich zeige den Kindern, wie sie leserlicher, müheloser und schneller schreiben können; das Schriftbild wird dadurch klarer und harmonischer. Die Kinder begreifen das Wesen, das Besondere der Buchstaben. Sie schulen zugleich ihr Raum- und Formempfinden.“

Von einer guten Handschrift profitieren auch Erwachsene – selbst in Zeiten der digitalen Kommunikation. Wenn es etwa darum geht, sich komplexe Zusammenhänge einzuprägen, ist es sinnvoller, sich Notizen mit der Hand zu machen statt über eine Tastatur. In Untersuchungen, in denen Studierende Vorlesungsmitschriften anfertigen und den Inhalt später aus dem Gedächtnis wiedergeben sollten, schnitten die Handschreiber besser ab als die Tastendrücker. Handgeschriebene Aufsätze von Schülern waren durch alle Jahrgangsstufen hindurch besser als am Rechner formulierte. Schneller schreibt man hingegen zweifellos mit der Tastatur. Die Wahl des Schreibmediums sollte also je nach Kontext getroffen werden – dazu müssen die Schreiber aber beide Varianten sicher beherrschen. Doch muss es wirklich eine Schreibschrift sein oder reicht auch die handgeschriebene Druckschrift? „Wenn wir den Kindern die Schreibschrift verwehren, nehmen wir ihnen nicht nur ein persönliches Ausdrucksmittel“, erklärt Gudrun Ruppel. „Die Schreibschrift, also die verbundene Schrift, wurde in den Kanzleien und Schreibstuben entwickelt, um zügiges, flüssiges Schreiben zu erlauben, direkt vom Kopf in die Hand; das ist eine kulturelle Errungenschaft. Wenn Sie Druckschrift schreiben, müssen Sie ständig neu ansetzen. Wörter bestehen aber aus sinntragenden Silben. Wenn Sie die in einem durchschreiben, prägt sich das ganze Wort besser ein. Es dauert zwar länger, bis die Kinder das beherrschen, hilft ihnen aber, die Rechtschreibung und die Struktur der Sprache zu verinnerlichen. Wörter mit verbundenen Buchstaben haben ein charakteristischeres Schriftbild und die sensomotorische Rückmeldung beim Schreiben ist spezifischer. Das ist ein ganz anderes, viel sinnlicheres Erlebnis als das Schreiben von Druckbuchstaben. Meiner Erfahrung nach profitieren davon gerade rechtschreibschwache Schüler. Bei einer guten Schreiblernschrift sind alle Verbindungen klar und die Buchstaben sind deutlich unterscheidbar; b und d können Sie so zum Beispiel gar nicht verwechseln.“

Das führt zum nächsten Problem: Was nämlich ist eine „gute Schreiblernschrift“? Auf dem Markt befinden sich inzwischen diverse Varianten: Die lateinische Ausgangsschrift, die vereinfachte Ausgangsschrift, die Schulausgangsschrift und, als jüngstes Mitglied der Familie, die Grundschrift. „Verlässliche Studien darüber, welche Schrift auf lange Sicht besser ist, gibt es keine“, sagt Gudrun Ruppel. „Die lateinische Ausgangsschrift ist bewährt, gilt aber als unmodern wegen der vielen Schnörkel. Die vereinfachte Ausgangschrift ist in den 70ern eingeführt worden, ohne dass es vorher gründliche wissenschaftliche Unteruchungen gegeben hätte. Inzwischen weiß man, dass sie diverse Mängel hat, viele Schulen verwenden sie trotzdem noch, in Aachen schätzungsweise 30 Prozent. Die Schulausgangsschrift ist ein guter Kompromiss, entschnörkelte Großbuchstaben und schwungvoll verbundene Kleinbuchstaben – aus meiner Sicht neben der Lateinischen Ausgangsschrift derzeit die beste Schreiblernschrift. Sie kommt ursprünglich aus der DDR, hat sich aber nach der Wende auch hier verbreitet. Die neueste Idee, die seit 2011 vom Grundschulverband empfohlen wird, ist die Grundschrift, obwohl es auch hierzu keine belastbaren Vorstudien gibt. Das ist im Prinzip gar keine Schreibschrift, sondern eine Druckschrift mit kleinen Häkchen, an denen man die Buchstaben verbinden könnte. Wie genau das die Kinder dann machen, sollen sie selbst austüfteln, eben im Selbstlernverfahren. Das geht bei einigen Buchstabenkombinationen noch, wie bei e, i, u, n und m. Aber bei anderen Buchstaben sind die Häkchen sogar irreführend, je nachdem, welcher Buchstabe folgt. Aus rn wird dann schnell mal ein m. Abgesehen davon können selbst geübte Schreiber aus einer Druckschrift mit abgesetzten Einzelbuchstaben keine verbundene Schreibschrift entwickeln, die Kinder sollen das aber machen. Der Aufwand für die Lehrkräfte, mit jedem Kind, das dabei Probleme hat, dann noch individuell nach Lösungen zu suchen, ist im Unterrichtsalltag kaum zu leisten. In der Praxis sieht das dann so aus, dass viele Kinder frustriert aufgeben und bei der Druckschrift bleiben. Mit ausreichend Muße und sachkundiger Zuwendung wäre Schreibanfängern mehr geholfen als mit einem weiteren Experiment in Sachen Schrift.“

Literatur:

Vom Elbi Verlag gibt es Lernhefte für die meisten gebräuchlichen Schulschriften: www.elbi.de
Aus der Conni-Reihe (Gelbe Reihe bei Carlsen) gibt es mehrere Übungshefte, mit denen Vorschulkinder sich auf das Schreiben vorbereiten können, z. B. „Lustige Vorübungen zum Schreiben“ oder „Buchstaben schreiben“:
www.conni.de/conni-gelbe-reihe

Quellen und Linktipps:

Website von Gudrun Ruppel: http://www.finde-deine-schrift.de/
Website der Handschriftenexpertin Maria-Anne Schulze Brüning: http://www.handschrift-schreibschrift.de/
Pdf des Schreibmotorik Instituts mit guten Gründen für das Schreiben mit der Hand: www.schreibmotorik-institut.com/images/PDF/PM_10grnde.pdf
Eintrag auf dem FAZ-Blog Deus ex Machina zur Handschrift als Kulturgut: http://blogs.faz.net/deus/2012/05/02/der-wert-der-handschrift-im-computerzeitalter-776/
Artikel zu Qualitätsunterschieden bei handgeschriebenen und getippten Texten: http://www.welt.de/wissenschaft/article5375210/Wer-zum-Stift-greift-hat-bessere-Ideen.html
Position des Grundschulverbands, der sich für die Grundschrift einsetzt: http://www.grundschulverband.de/projekte/grundschrift/
Grundschriftkritische Website des Psychologen Götz Taubert: http://www.grundschrift.info/
Website der Allianz für Handschrift: http://www.allianz-fuer-handschrift.de/
Artikel des Journalisten Christian Füller, der sich für das angeleitete Schreibenlernen ausspricht: https://handschriftlich.wordpress.com/2015/06/18/schreibenlernen-ist-kein-autodidaktischer-prozess/

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One response to “Der Schrift verschrieben: Schreibtraining mit Herz und Verstand

  1. Vielen Dank für den interessanten Beitrag. Beruflich beschäftige ich mich momentan mit der Übersetzung der Kurrentschrift. Ich muss ehrlich zugeben, dass meine Schrift in der Schule erschreckend unleserlich war. Daher habe ich mich bemüht und meine Schrift in vielen Schreibweisen verbessert.