Attachment Parenting – neuer Schrei, alter Hut oder neidgrüner Zankapfel?

in Aktuelles um die Ecke, Familienleben

Über Familienbetten, Langzeitstillen und die Frage nach ihrem eigenen Emanzipationsstatus hatte sich Susanne Trust nie Gedanken gemacht – und dann kam ihr Sohn Lars. „Der Beschützerinstinkt, den ich plötzlich empfunden habe, hat mich überwältigt“, erzählt Susanne. „Ich hätte selbst nicht gedacht, dass ich so reagiere. Vorher habe ich es für völlig normal gehalten, Babys auch mal zur Oma zu geben oder für einen Abend einen Babysitter zu bestellen. Aber als Lars dann auf der Welt war, fand ich die Vorstellung auf einmal unerträglich. Mein Gefühl hat mir deutlich gesagt: Ich will bei meinem Kind sein.“ Selbst, ihren Mann alleine mit Lars losziehen zu lassen, kostete Susanne anfangs Überwindung. „Ich habe Lars so viel wie möglich mit mir herumgetragen. Das Beistellbett, das wir schon angeschafft hatten, haben wir nicht benutzt. Lars hat ganz selbstverständlich mit in unserem Bett geschlafen. Das tut er übrigens heute noch; er ist jetzt drei. Ich habe Glück, dass mein Mann mich voll unterstützt. Er hat einfach unser Bett breiter gemacht, damit wir alle genug Platz haben.“ Susanne wandte sich vollständig ihrem Kind zu und achtete auf jede Regung des Babys. Ihren Sohn schreien zu lassen oder einem Schlaftraining zu unterziehen, wäre ihr wie Folter vorgekommen. Im Umgang mit dem Kind einzig auf ihre eigene Intuition zu vertrauen, war trotzdem nicht so einfach: „Lars ist mein erstes Kind, da war ich natürlich auch manchmal unsicher. Ich bekam von allen Seiten gute Ratschläge, aber die widersprachen sich nicht nur gegenseitig, sondern liefen zum Teil auch meinem Gefühl entgegen. Also habe ich im Internet recherchiert, in Blogs gestöbert und Bücher gelesen. Meinen Vorstellungen von Bindung, frühkindlicher Entwicklung und Erziehung habe ich im attachment parenting wiedergefunden.“

„Das Kind soll selbst bestimmen, wann welche Bedürfnisse erfüllt werden müssen.“

„Bindungsorientierte Elternschaft“, so lautet die gängige Übersetzung des nicht ganz exakt ins Deutsche übertragbaren Begriffs attachment parenting [AP]. Sollte ja bei jeder Eltern-Kind-Beziehung so sein, denkt man. Folgt man William Sears, Arzt und Erfinder des Begriffs, geht das, was viele Eltern landläufig unter Bindung verstehen, aber längst nicht weit genug. Sears und seine Frau, selbst Eltern von acht Kindern, stellten 1982 ein 7-Punkte-Konzept auf, das für eine besonders gute, enge Bindung zwischen Mutter und Kind sorgen soll. Zu den sogenannten „Baby-B’s“ gehören viel Körperkontakt schon unmittelbar nach der Geburt (birth bonding), das Tragen des Kindes (baby wearing), möglichst langes Stillen (breastfeeding), die prompte Reaktion auf alle Signale des Kindes, vor allem auf das Weinen (belief in baby’s cries), ein Familienbett, in dem Eltern und Kinder gemeinsam schlafen (bedding close to baby) und die Balance zwischen den Bedürfnissen von Mutter und Kind (balance and boundaries). Hinzu kommt ein weiterer Punkt, der in einem Ratgeber für Eltern eigentümlich anmutet: Vorsicht vor Babytrainern (beware of baby trainers). Leser werden vor vermeintlich guten Ratschlägen gewarnt, die dem AP entgegenlaufen – und damit aus Sicht der Sears automatisch auch der Intuition der Eltern. Das Kind soll sich uneingeschränkt verstanden und angenommen fühlen und selbst bestimmen, wann welche seiner Bedürfnisse erfüllt werden müssen.
William Sears bezog sich mit seiner Erziehungsphilosophie anfangs explizit auf das Kontinuum-Konzept von Jean Liedloff. Die amerikanische Journalistin und Therapeutin hatte in den 1970ern ein vielbeachtetes Buch über die Kindererziehung bei den Yekuana publiziert, einer indigenen Volksgruppe im venezuelanischen Urwald. Sie hatte mehrere Jahre bei den Yekuana verbracht, um herauszufinden, warum es dort kaum zu Erziehungskonflikten kam, wie sie sie von westlichen Familien kannte. Sie stellte fest, dass Säuglinge und Kleinkinder so viel intensiven Körperkontakt zu ihren Bezugspersonen hatten, wie sie wollten. Die Säuglinge wurden herumgetragen, bis sie sich selbst fortbewegen konnten und aus eigenem Antrieb heraus ihren Radius vergrößerten. Die Bedürfnisse der Kleinsten wurden von den Erwachsenen und älteren Kindern unmittelbar, aber unaufgeregt beantwortet. Babys waren zwar bei allen Arbeiten und Alltagsverrichtungen der Erwachsenen zugegen, bekamen aber keine gesonderte Aufmerksamheit. Der Gedanke, Säuglinge könnten ihre Eltern durch Schreie manipulieren wollen, war den Yekuana ebenso fremd wie die Vorstellung, Kinder müssten gemaßregelt, zu bestimmtem Verhalten gezwungen oder vor Gefahren bewahrt werden. Selbst Krabbelkinder wurden nicht beaufsichtigt oder beschäftigt. Liedloff beschreibt die Atmosphäre bei den von ihr besuchten Stämmen als ausgesprochen harmonisch, fröhlich und von Hilfsbereitschaft und Respekt geprägt, was sie auf die von gegenseitigem Vertrauen bestimmte Erziehung zurückführt. Schreiende, tyrannische Kinder erlebte sie ebenso wenig wie Eltern mit zerrütteten Nerven. Kinder, so Liedloffs Schluss, seien von Natur aus soziale Wesen, die die Interaktion zwischen Erwachsenen genau beobachteten und sich nach und nach in die Gruppe einbrächten. Sie kämen mit den gleichen Instinkten auf die Welt wie die Säuglinge unserer Vorfahren, für die jede Trennung von der Gruppe und speziell vom Körper der Mutter eine existenziell bedrohliche Situation dargestellt hätte; das Schreien des Babys sei damit glaubhafter Ausdruck äußerster Angst und Verzweiflung, kein Versuch, die Eltern zur Weißglut zu bringen. Sears überführte viele von Liedloffs Erkenntnissen in sein Konzept und verband sie mit eigenen, zum Teil christlich-evangelikal gefärbten Überzeugungen. Die ersten AP-Gruppen gründeten sich Mitte der 1990er Jahre in den USA. In Deutschland beziehen sich erst seit wenigen Jahren Eltern explizit auf AP, und viele praktizieren gemäßigtere Formen. So auch Susanne, die als Orientierungshilfe das Blog ihrer Namensvetterin Susanne Mierau und die Bücher des Kinderarztes Herbert Renz-Polster empfiehlt.

Einige der Intensivmütter verpassen den Punkt loszulassen.

Susanne betreut als Tagesmutter noch zwei Kleinkinder und hebt das AP als Alleinstellungsmerkmal bei ihrem Tagesbetreuungsangebot hervor: „Das war für die Mutter der beiden Mädchen, die vormittags bei mir sind, das wichtigste Entscheidungskriterium. Sie hat ähnliche Erziehungsgrundsätze wie ich, kann sich aber aus beruflichen Gründen nicht Vollzeit um die Kinder kümmern. Sie wollte ihre Kinder gerne in einem Umfeld wissen, in dem eine ähnliche Atmosphäre herrscht wie bei ihr zu Hause.“ Einer der Pferdefüße am AP-Konzept ist nämlich, dass es sich schlecht mit einer Berufstätigkeit der Mutter vereinbaren lässt. Der Tagesrhythmus der Eltern wird dem des Kindes untergeordnet. Nicht zuletzt wegen des Gebots, möglichst lange zu stillen, muss sich so manche Frau zwischen konsequent durchgeführtem AP und Karriere entscheiden. Auf feste Mahlzeiten wird im AP verzichtet, das Baby bekommt unabhängig von der Tages- oder Nachtzeit immer sofort Milch, wenn es möchte; natürlich wegen des intensiveren Körperkontakts vorzugsweise aus der Brust, nicht aus der Flasche. Ein Ideal, das Susanne zu ihrem großen Bedauern selbst nicht einhalten konnte. Schlimmste Brustentzündungen in Kombination mit einem zu schwach ausgeprägten Saugreflex des Kindes machten die Stillversuche für beide zur Qual. Den Behauptungen mancher Stillberaterinnen zum Trotz, jede Frau könne stillen, wenn sie nur wolle, halfen auch Susannes fester Wille und ihre Leidensbereitschaft nicht. Nach mehreren Wochen brach sie die Tortur ab: „Ich könnte heute noch heulen, dass es nicht geklappt hat. Ich hätte gerne so lange gestillt, bis wir beide nicht mehr gewollt hätten. Vielleicht würde ich jetzt noch stillen.“ Damit liegt sie mit den Sears auf einer Linie, die eine Stillzeit von ein bis vier Jahren empfehlen – am besten so lange, bis sich das Kind von alleine abstillt. Die Haupterziehungsverantwortung für Säuglinge und Kleinkinder liegt damit zumindest für strenge Verfechter des AP automatisch bei den Müttern.

Es kommt vor, dass Frauen, die sich das AP oder ähnlich intensive Erziehungsstile auf die Fahnen geschrieben haben, dabei bis an die Grenze der völligen Selbstaufgabe gehen. Anders als bei den von Liedloff beschriebenen Yekuana, die ihre Kinder eher beiläufig erziehen, werden die Kinder für sie zum Dreh- und Angelpunkt des Lebens, das Muttersein wird zum einzigen Lebensinhalt. Ein Phänomen, das auch unter intensive mothering bekannt ist. Obwohl frühe Selbstständigkeit durchaus zu den meisten AP-Konzepten dazugehört, verpassen einige der Intensivmütter den Punkt, an dem sie loslassen und sowohl sich als auch dem Kind größere Freiräume zugestehen müssten. Die Fallhöhe für die Frauen ist ebenso groß wie die Ansprüche, die sie an sich und ihre Erziehungsleistung stellen. Geht das Konzept trotz aller Bemühungen nicht auf, sind häufig extreme Schuldgefühle und Selbstzweifel die Folge. Studien zufolge geht die Intensivmutterschaft überdurchschnittlich oft mit Depressionen und Erschöpfungszuständen einher – und das, obwohl die enge Bindung zum Kind doch eigentlich so erfüllend sein soll. Auch wenn die Sears immer wieder darauf verweisen, die Balance zwischen den Bedürfnissen von Eltern und Kind müsse gehalten werden, suggerieren etliche ihrer Formulierungen, zum Beispiel in Bezug auf das unsicher gebundene (unconnected) Kind, dass allzu unhäusliches Verhalten der Mütter als kritisch zu bewerten sei und zur Beeinträchtigung des Sozialverhaltens der Kinder führen könne. Unsicher gebundene (weil nicht nach den Regeln des AP erzogene) Kinder fielen häufig durch Fehlbetragen auf und seien einfach keine so angenehme Gesellschaft wie bindungsorientiert erzogene. Als Resultat fänden die (ebenfalls unsicher gebundenen) Eltern keine berufliche Erfüllung (job satisfaction) im häuslichen Kontext und wendeten sich vermehrt ihren Berufskarrieren zu. Im Umkehrschluss müsste eine nach den Regeln des AP gestaltete Mutterschaft als berufliche Entfaltung für Mütter ausreichen. Natürlich, so zu lesen in den Publikationen der Sears, bräuchten Mütter Auszeiten, in denen der Vater oder eine andere Betreuungsperson sich um das Kind kümmerten. Zugleich klingt aber an, dass der Mann hauptsächlich dazu da sei, gute Voraussetzungen zu schaffen, damit sich seine Partnerin auf das Kind konzentrieren kann.

„Ich habe auch darüber nachgedacht, ob ich denn überhaupt eine emanzipierte Frau bin. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich nur dann emanzipiert bin, wenn ich das tue, was ich selbst möchte. Und ich will bei meinem Kind zu Hause bleiben.“

Kein Wunder, dass viele Postulate von Gründervater Sears und einige extreme Ausprägungen des AP scharf kritisiert werden. Eltern würden in überkommene Rollenmuster zurückgedrängt, die Erfolge der Emanzipationsbewegung geschwächt, heißt es nicht nur von feministischer Seite. Auch so mancher Vater fühlt sich zur Randfigur degradiert. Hinzu kommen die direkten Auseinandersetzungen zwischen Vertretern verschiedener Erziehungsschulen. Langzeitstillende Mütter stehen unter dem Generalverdacht, sich an ihre Kinder zu klammern und deren natürliche Autonomiebestrebungen zu behindern. Karrierebewussten Frauen wird – nicht selten von Müttern, die sich auf das AP berufen – vermittelt, sie seien egoistisch und schadeten der emotionalen Entwicklung ihrer Kinder. Susanne lehnt das gegenseitige Beharken entschieden ab: „Wenn eine Mutter darunter leidet, nicht arbeiten zu gehen, ist es auch für das Kind schlecht. Ich glaube, es ist entscheidend, dass das Kind feste Bezugspersonen hat und sicher ist, dass es immer Kontakt suchen kann. Ob das nun der Vater, die Mutter, die Oma oder eben für gewisse Zeiten eine Tagesmutter ist. Für mich persönlich ist es so, dass ich meine eigenen Bedürfnisse in meinem Job mehr zurückstellen musste als jetzt. Ich habe aber auch das Glück, dass wir es uns leisten können, auf einen Großteil meines vorigen Gehalts zu verzichten; viele andere Familien können das nicht. Ich habe auch darüber nachgedacht, ob ich denn überhaupt eine emanzipierte Frau bin. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich nur dann emanzipiert bin, wenn ich das tue, was ich selbst möchte. Und ich will bei meinem Kind zu Hause bleiben. Die Phase, in der die Kinder uns so sehr brauchen und so viel engen Kontakt wollen, ist in Null Komma nichts vorbei, die Zeit will ich genießen.“

Aber auch Susanne kennt Phasen, in denen sie hadert und mit dem AP an ihre Grenzen stößt. Wie jetzt zum Beispiel, wo Lars eine deutliche Trotzphase durchmacht und auf Biegen und Brechen seinen Willen durchsetzen will. Susanne versucht in solchen Momenten, auf ihren Bauch zu hören und die Beziehung zu Lars neu zu justieren. Sie ist davon überzeugt, dass sie ihrem Sohn vorleben muss, wie man sich richtig verhält: „Das ist ein ständiger Findungsprozess. Die Kinder kommen völlig hilflos auf die Welt, wir erwarten viel zu viel von so kleinen Wesen. Aber schließlich sind wir die mit der Lebenserfahrung. Wenn wir schimpfen und uns mit Macht durchsetzen, leben wir nichts Gutes vor.“ Auf die Frage, was sie anderen Eltern raten würde, die auf der Suche nach einem für sie angemessenen Erziehungsstil sind, antwortet sie zögerlich: „Ach, wir haben alle unsere eigene Idee, was richtig ist. „Fehler“ gibt es da nicht. Mir selbst würde ich raten, andere Meinungen anzuhören, aber auf mein Gefühl zu vertrauen.“

Bücher & Links

William und Martha Sears: Das Attachment Parenting Buch
Babys pflegen und verstehen
Tologo, Leipzig 2012 19,90 Euro

Jean Liedloff: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit  
(Titel der englischen Ausgabe von 1977: The Continuum Concept)
Beck, München 1998
9,95 Euro

Susanne Mierau: Geborgen wachsen: Wie Kinder glücklich groß werden
Kösel, München 2016
16,99 Euro

 

Ein Artikel von Herbert Renz-Polster über den evolutionsbiologischen Nutzen von Nähe und die Frage, ob man Kinder durch viel Nähe verwöhnt: http://attachment-parenting.de/allgemein/wie-verwohnt-man-kinder-von-herbert-renz-polster/

Ein Interview mit der Entwicklungspsychologin Heidemarie Keller, die den Umgang mit Säuglingen in verschiedensten Kulturen untersucht hat und das Attachment Parenting eher als Wohlstandsgesellschaftsphänomen betrachtet:
http://www.fr-online.de/wissenschaft/umgang-mit-kindern–urform-der-mutterliebe-gibt-es-nicht-,1472788,25804470.html

Antworten von Susanne Mierau auf 5 Argumente gegen das AP (interessant auch die Leserkommentare):
http://geborgen-wachsen.de/2015/01/03/5-gruende-gegen-bindungsorientierte-elternschaft-und-warum-sie-unsinn-sind/

Artikel über den Zusammenhang zwischen intensive mothering und Depression:
http://www.forbes.com/sites/alicegwalton/2012/07/06/the-better-mother-how-intense-parenting-leads-to-depression/#55e455f9355f

Die Website von William Sears: http://www.askdrsears.com/

Bleibe immer auf dem Laufenden

Ich will nichts verpassen und möchte wöchentlich den kostenlosen KingKalli-Newsletter erhalten und über aktuelle Themen und Termine auf dem Laufenden gehalten werden.

Ich bin damit einverstanden, den Newsletter zu erhalten und weiß, dass ich mich jederzeit problemlos wieder abmelden kann.

Hinterlasse einen Kommentar